Max Richter - From 'Sleep'

Deutsche Grammophon / Universal
VÖ: 04.09.2015
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Um den Schlaf gebracht

Acht Stunden. 480 Minuten. 28.800 Sekunden. Ein Drittel vom Tag. Oder, wie es der liebe Kollege Stephan Müller einordnete: zwei plus zwei Drittel Kamasi-Washingtons. Der in Deutschland geborene Brite Max Richter hat mit "Sleep" ein Acht-Stunden-Monstrum geschaffen, gegen das Washingtons Jazz-Dreifachalbum "The epic" zu einer etwas aufgeblähten Maxi-Single verkommt. "Sleep", das deutet der Titel schon an, soll dem Hörer beim Schlafen helfen. Die Kompositionen wirken, so der Plan, in neurologischer Weise und sorgen damit für eine angenehmere Nachtruhe, indem sie den Lärm des Alltags ausschalten. Das Unterbewusstsein nimmt die Tonfolgen wahr, wodurch das Träumen beeinflusst werden soll. "Sleep" ist dennoch mehr als ein Wiegenlied.

Es ist ein Statement. Wer hat schon Zeit, sich acht Stunden klassische Musik anzuhören? Eben. Weil jeder an einem gewöhnlichen Tag zu viel zu tun hat. Also schafft Richter einfach den Soundtrack für die einzige Phase, in der man die nötige Ruhe hat, um genau jenen Soundtrack auch zu hören. Denn schlafen, das ist gewiss, muss jeder mal. Geschenkt, dass Richter, der neben diversen Solo- und Kollaborationsarbeiten in jüngster Zeit vor allem auch durch sein Schaffen an der HBO-Serie "The leftovers" bekannt wurde, damit nicht nur zum Gesprächsthema, sondern auch zum Rekordbrecher wurde. Und irgendwie auch zum Visionär. "Sleep" machte neugierig und regte zum Nachdenken an. Also fasste der 49-Jährige sein Mammutwerk zusammen und kürzte es auf genau eine Stunde, mit ein paar wenigen Abweichungen und Änderungen. Die neue Version verliert dadurch nicht an Wirkung. Im Gegenteil: Während die Langfassung zum Träumen einlud, wirkt "From 'Sleep'" gegenteilig: Es bringt den Hörer um den Schlaf.

Man muss es sich vorstellen wie jenen berüchtigen Moment, den man ab und an während des Einschlafens erlebt: Der Traum hat angefangen. Man läuft auf einer Straße entlang, fährt, klettert, springt. Und plötzlich passiert es: Man fällt. Prallt mit voller Wucht gegen etwas. Stolpert. Und ist mit einem Schlag hellwach. Auf "From 'Sleep'" scheint genau dieser Moment hinter jeder Ecke zu lauern. Die sieben Stücke, die Richter gemeinsam mit fünf Mitgliedern des American Contemporary Music Ensembles sowie der Sopranistin Grace Davidson produziert hat, wirken nur beim ersten Hördurchgang einlullend. Mit jedem weiteren spielen sie sich tiefer unter die Haut, wecken die Sinne und halten den Kopf auf Trab. Fast ist es, als würden sich die Zahnräder zwischen den Ohren mit jedem Mal etwas schneller drehen. Ein wirkliches Zur-Ruhe-Kommen wird hier nur angedeutet. Das düstere "Space 11 (Invisible pages over)" etwa sorgt höchstens für einen kurzen Ausflug ins Albtraumland, nach dem man ganz freiwillig wach bleiben will, während die Verspieltheit von "Dream 13 (Minus even)" nicht ohne einen gewissen melancholischen Unterton daherkommt – wie eine Art Feuerwerk ohne jegliche Geräusche. Oder Farben.

Wenn Grace Davidson in "Path 5 (Delta)" von der ersten Sekunde an gedankenversunken lossummt, mag das zunächst entspannen. Nach etwa eineinhalb Minuten aber gesellt sich eine weitere Gesangsspur dazu, ebenfalls von Davidson, nur etwas höher. Im Verlauf der nächsten knapp zehn Minuten verwandelt sich die Entspannung in ein seltsames Gefühl aus Gespanntheit und Nervenkitzel, und Davidson klingt nach und nach, als wäre sie unter Wasser aufgenommen worden – wie Walgesänge. Währenddessen bleibt Richters Orgelspiel dezent im Hintergrund und sorgt höchstens für sphärische Untermalung, ohne wirklich einzugreifen. Auch im Abschlussstück "Dream 8 (Late and soon)" ist Davidson zu hören, diesmal allerdings als Puzzlestück oder Teil des Ganzen: Die fünfköpfige Streichersektion, bestehend aus zwei Violinen, zwei Celli und einer Bratsche, sorgen für den Bilderrahmen, der sich Stück für Stück mit der Wand, an der er hängt, zu verbinden droht. Währenddessen malt der erneut wortlose Gesang das Bild aus, das sich mit jeder weiteren Minute verändert. Am Ende verblasst jedoch auch der letzte Pinselstrich wieder. Wer etwas von Dauer will, muss es sich eben selbst schaffen. Schlafen kann man ja immer noch – später.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Dream 13 (Minus even)
  • Dream 8 (Late and soon)

Tracklist

  1. Dream 3 (In the midst of my life)
  2. Path 5 (Delta)
  3. Space 11 (Invisible pages over)
  4. Dream 13 (Minus even)
  5. Space 21 (Petrichor)
  6. Path 19 (Yet frailest)
  7. Dream 8 (Late and soon)
Gesamtspielzeit: 60:00 min

Im Forum kommentieren

Der Untergeher

2018-06-05 11:51:25

Das klingt super! Samstag ist es dann für mich auch soweit. Ich bin sehr gespannt und hoffe ebenfalls, dass er jeweils die beiden Alben spielen wird, auch wenn nur Auszüge für Infra und Blue Notebooks angekündigt sind.

Und zum Album: Ich höre es immer noch sehr gerne. Sowohl die Lang- als auch die Kurzfassung. Die Melodien sind so zeitlos, dass sich daran nichts abnutzt. Mit den Stars of the Lid immer noch meine Nummer eins Musik für Zugfahrten und wenn ich lange lesen will und mir die Umgebung zu unruhig ist.

boneless

2018-06-05 11:18:26

An den Sleep-Konzerten konnte ich ja leider nicht teilnehmen, dafür dann gestern Max Richter endlich live in der Philharmonie.
Infra und die Blue Notebooks wurden am Stück aufgeführt. War natürlich wie zu erwarten total großartig, wobei mir Infra mehr gegeben hat als die Blue Notebooks, weil in sich geschlossener und ergreifender. Die Blue Notebooks sind dank ihrer collagenhaften Art zwar abwechslungsreicher, wirkten live aber auch etwas zerrissen. Ansonsten konnte man wenig meckern. Umwerfendes Streicherensemble, perfekter Sound, knisternde Atmosphäre. Hat sich gelohnt.

Old Nobody

2018-04-05 00:36:55

Dream und Path ziehen grad total
Seit August nicht mehr reingehört, haut mich direkt wieder richtig um

Desinformer

2017-08-06 10:00:43

Vermutlich soll man zu der Musik auch gar nicht unbedingt einschlafen, sondern im Wachzustand ein wenig davon begreifen, was das "Phänomen Schlaf" eigentlich ausmacht.

Old Nobody

2017-08-06 09:51:00

Nochmal danke für den Link. Muss verdammt stark gewesen sein, da im Bett zu liegen und die Musik so richtig um sich rum zu haben. Mich würde es wirklich interessieren, wie es das Schlaferlebnis beeinflusst, wenn dabei diese Musik den Raum erfüllt. Es gelingt mir aber nicht, zu dieser Musik einzuschlafen. Das würde es erst recht nicht, wenn ich da vor Ort gewesen wäre. Die Musik, vor allem die erste Stunde ( ich glaub Dream und Path) sind dazu viel zu intensiv, die Melodie grade bei Path viel zu berührend. Das kriecht durch diese Wiederholung ganz tief in mich rein. Haut dann voll in die Magengegend. Sehr berührend. Absolut fantastisch. Eben zu gut um dazu schlafen zu können.
Um zu Musik schlafen zu können, müsste die für mich mehr im Hintergrund laufen, eher so was beiläufiges haben.

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