Jim O'Rourke - Simple songs
Drag City / Rough TradeVÖ: 22.05.2015
Nicht so einfach
Irgendwann wird man sich wissenschaftlich mit Jim O'Rourke befassen, ganz sicher. Schon die Auflistung aller Neben-Projekte des mittlerweile 46-Jährigen füllt ein Buch, deren Interpretation gleich mehrere Bände. So hat er etwa die veritablen Wilco produziert, bei der grazilen Joanna Newsom abgemischt, zuvor zwischenzeitlich bei den illustren Sonic Youth mitgespielt. Die Rolling Stones wollten ihn. Er wollte hingegen nicht mit den Rolling Stones. Diese musikhistorischen Verästelungen lassen sich an anderen Stellen ausführlich nachlesen und doch sind sie wichtiger Teil dieses Künstlers, der von vielen beeinflusst ist und noch mehr geprägt hat.
Dabei ist "Simple songs" nur eine der elf Veröffentlichungen von und mit O'Rourke in 2015 (zumindest laut Discogs). Impro-Jazz findet sich darunter, Industrial, Electronic. Doch ist es die wichtigste des aus der Zeit Gefallenen, der nie so recht aus der Liedermachart der 1960er/70er herausgefunden hat. Zwar wurde er experimenteller, technikaffin, doch schreibt er noch immer am liebsten Lieder in der Tradition von Zeitgenossen wie Van Dyke Parks oder Randy Newman. Wenn die Zukunft, so von Karl Valentin bespöttelt, früher auch besser gewesen sei, dann ist das mit der Zeit für eine zeitgeistlose Seele wie Jim O'Rourke sowas von gleichgültig.
Denn wer sich gegen das Altern, gerade der eigenen Kunst, impfen möchte, der lässt Andeutungen stehen. In "Friends with benefits" etwa, wo man sich nicht sicher ist, ob man als Hörer angesprochen wird oder eher die verloren gegangenen Freunde, die sich wiederum platzverlangend im Kopf eingenistet haben. Und denen man verpflichtet scheint, zu was auch immer, ob sie nun tot oder fort sind oder wiederkehren. Ähnlich undeutlich bleibt, ob es sich hier noch um opulent orchestrierten Pop oder eher ein klassisches Musikstück handelt. Wegen der Zuspitzung gen Liedschluss! Den dann einsetzenden, dramatischen Streichern! Dem sich verlierenden, verhallenden Gesang! Weitere liebenswerte Fragwürdigkeiten: Spanische Gitarren treiben "Hotel blue" in eine Power-Pop-Ballade mitsamt Springsteen-Aufschrei. Der jazzige Bläserkern von "Half life crisis" wird von Prog-Rock-Gitarren ummantelt. Hinzu kommen Feinheiten, wie Streicher, die nur für wenige Sekunden einsetzen, etwa in "Last year".
Die wahre Finesse von "Simple songs" ist hingegen die Produktion. Alle Spuren scheinen gleich leise aufgenommen und nicht abgemischt zu sein. Dilettantisch, meinen die einen. Unverdorben, die anderen. Denn nur so können sich O'Rourkes Gesang, die Klaviere, Streicher, Gitarren, Vibraphone und weitere vermischen, gegenseitig übertünchen und in den Melodien spiegeln. Hüpft das Piano melodisch empor, drückt die Gitarre konträr hinab und inmitten der Stücke werden die Rollen getauscht. All das lässt "Simple songs" zu einem der, wenn nicht gar dem zugänglichsten und vitalsten O'Rourke-Album werden. "All your love will never change me", schließt er noch in einer weichen Ballade ab, so anrührend und würdevoll weise, wie es eigentlich nur die Ältesten singen. Die verdaulichste Avantgarde des Jahres. Simple songs for not-simple people.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Friends with benefits
- Half life crisis
- Hotel Blue
- All your love
Tracklist
- Friends with benefits
- That weekend
- Half life crisis
- Hotel Blue
- These hands
- Last year
- End of the road
- All your love
Im Forum kommentieren
Armin
2016-01-05 00:28:56
Frisch rezensiert!
Als "Vergessene Perle".
Meinungen?
Herder
2016-01-04 23:47:19
Ach, schön dass das Album hier noch besprochen wird. Mir ist es inzwischen auch ans Herz gewachsen und die Rezension benennt recht treffend die Gründe dafür.
mememe
2015-12-21 07:03:58
Bitte noch ein paar Mal hören. Das Album braucht einige Durchläufe, bis sich die Titel ins Hirn eingraben. Dann echt ein prima Album. Ist definitiv unter meinen Top 10 des Jahres.
Herder
2015-12-19 16:08:51
Das Album ist übrigens extrem leise auf Tonträger gebannt - zumindest bei mir.
Inzwischen höre ich das Album doch recht gerne. Schöne Arrangements - wie ich finde.
humbert humbert
2015-05-27 20:18:52
@ Herder
Habe doch auch damit gerechnet, dass die etwas experimentelleren Noisesachen Einzug finden in sein neues Album. So richtig packts mich halt leider nicht.
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