Benjamin Clementine - At least for now

Caroline / Universal
VÖ: 17.04.2015
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Von einem, der auszog

Benjamin Clementine wäre auch ohne seine Musik eine Erscheinung. Er ist ca. zwei Meter groß, ein Riese mit dem Ansatz einer Turmfrisur, der in seinem Trenchcoat ein wenig so aussieht, als sei Blade zum Pianisten umgeschult worden. Freundlich schaut er drein, zugleich ernst, als er sich barfuß am Klavier niederlässt. Der kurze Moment des Innehaltens seinerseits überträgt sich sprunghaft auf das Publikum und es herrscht alsbald Ruhe. Das Setting steht. Für die unverblümten, ungekünstelten Erzählungen des 27-Jährigen mit ghanaischen Wurzeln, der im englischen Edmonton aufwuchs und nach einer gescheiterten Beziehung die Zelte abbrach, um sein Wohl in Paris zu finden.

"I won't complain", titelte Clementine bereits 2013 auf seiner ersten EP "Cornerstone". Wohlwissend, dass er es könnte. Über seine Anfänge in Frankreich, das Leben ohne Obdach und eine Zeit, als die Kunst für ihn wahrhaftiger Überlebenszweck gewesen sein musste. Aber er hielt durch, spielte und sang sich durch Tage, Wochen, Monate, Jahre, bis er schließlich entdeckt wurde. Eigentlich macht er es jetzt genauso. Nur, dass er Platten aufnimmt und an anderen Orten spielt und singt. So will es die Legende. Und man möchte sie zu gerne für wahr halten, erklärte sie doch die Inbrunst von Clementines vertonten Gedankengängen. "At least for now" – das ist es bis hierhin, eine Definition seines Hier und Jetzt und wie es dazu kam. "The decision is mine, the decision was hard, but the vision is mine", zischt er energisch in "Adios".

Seinen Weg zeichnet der Brite mit klarer Sprache, die jeden Raum zur Entfaltung erhält und sich erst in einem zweiten Schritt das Arrangement passend schneidert. "Sparkling water mixed with peaches and rum / Honestly I don't drink, but if I did this surely will be my favourite punch", berichtet Clementine in "London". Das ist vermutlich vielen Hörern zu wenig, um es selbst alltagspoetisch zu nennen, aber in unmittelbarer Nähe zu seiner Geisteshaltung und der Mixtur aus Klassik, Kammerpop, Soul, Jazz, Chanson und Folk ist es auch mehr als einfacher Wohlklang: "When my preferred ways are not happening, I won't underestimate who I am capable of becoming."

Der Singer-Songwriter am Piano steht bei "Gone" in der Tradition von Tom Waits oder Leonard Cohen, Clementines Spiel orientiert sich aber häufiger an klassischen Komponisten wie Erik Satie oder Claude Debussy und seine Stimme lehnt ohnehin jedwede Grenzzuweisung ab. Nina Simone stellt sicherlich einen wesentlichen Einfluss dar, Gesang wäre als Begrifflichkeit für den Hünen jedoch zu kurz gegriffen: Clementine singt nicht nur quer durch das Spektrum der Tonleiter, er lacht auch gequält und angsteinflößend in "Quiver a little", spricht in sich gekehrt und imaginiert zu operngleicher Intonierung inmitten von "Adios" ein Gespräch mit Engeln. Wer das Perfekte sucht, wird Packendes finden.

"Who is next in line to get hurt / Who is next in line to get speared", fragt Clementine in "Then I heard a bachelor's cry". Dreieinhalb Minuten sinniert der Mann aus Edmonton in aller Ruhe über die beiden Säulen der verblichenen Beziehung, ehe er mit dem Piano ein Grollen heraufbeschwört, Streicher vereinnahmt und sich stimmlich beinahe überschlägt, so schnell möchte er rufen: "I can see our future / It isn't so bright." Verschnaufpause. Clementine wechselt in die Kopfstimme, aus Passiv wird Aktiv, der Durchbohrte wird zum Aufspießenden. Der Erzähler, der Liebe verschlingt und Schmerz ausspuckt, sucht ein neues Opfer. Und als der Vorhang des Tracks fällt, hat Clementine ein theatergleiches Stück inszeniert. Mit drei Akten. Ein Mann, eine Erscheinung.

(Stephan Müller)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Then I heard a bachelor's cry
  • London
  • The people and I
  • Cornerstone

Tracklist

  1. Winston Churchill's boy
  2. Then I heard a bachelor's cry
  3. London
  4. Adios
  5. St-Clementine-on-tea-and-croissants
  6. Nemesis
  7. The people and I
  8. Condolence
  9. Cornerstone
  10. Quiver a little
  11. Gone
Gesamtspielzeit: 50:52 min

Im Forum kommentieren

Jasper

2016-01-10 14:08:30

Bestes Album des Jahres. Ein Fauxpas das zu übersehen. Shame on you, Armin.

Armin

2016-01-05 00:27:46

Frisch rezensiert!

Als "Vergessene Perle".

Meinungen?

Leatherface

2015-12-21 18:06:02

Er erinnert mich vor allem an Nina Simone (siehe besonders "Adios").

Dan

2015-12-21 18:00:43


Seal ist über die Jahre ja doch zu schmalzig geworden...

captain kidd

2015-12-21 12:30:09

beim ersten reinhören hatte ich noch den eindruck, er würde sich anhören wie seal. er klingt aber irgendwie nach einer mischung aus chris martin, damien dempsey und seal. nicht so schlecht.

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