Von Brücken - Weit weg von fertig
Four / SonyVÖ: 30.10.2015
Nach der verlorenen Band
Ist das Revolution / Wenn man schließlich erkennt / Dass man mitten in sich / Völlig lichterloh brennt?
Eines muss man Nicholas Müller lassen: Das mit den Paukenschlägen, das hat er drauf. Im Frühjahr 2014 kam der erste, und der saß besonders tief: Der Sänger ließ Jupiter Jones, seine Band, ja sein gesamtes musikalisches Leben hinter sich. Er ging mit all den Erinnerungen: vom Proberaum in der tiefsten Eifel über wilde Punkrock-Nächte rund um das Debüt "Raum um Raum", das wohl bis heute intensivste Trauerkloß-Punk-Album überhaupt, bis hin zum Mega-Durchbruch mit "Still", dem hierzulande meistgespielten Airplay-Radio-Song des Jahres 2011, der Müllers und Jupiter Jones' Dasein verändern sollte. Bereits damals war bekannt, dass der Mann mit der feinen Reibeisenstimme an einer Angststörung leidet. Der Rummel um seine Band bremste die Krankheit nicht aus. Als die Angst auch auf der Bühne allgegenwärtig wurde, ging es nicht mehr. Bis heute geht Müller bemerkenswert offen damit um und bekämpft vehement das Stillschweigen und Vertuschen, mit dem die Gesellschaft psychischen Erkrankungen zumeist begegnet.
Es gibt keinen Grund, sich zu schämen, sich wegzuducken oder zu schweigen. Auch darum schreibt Müller Songs wie "Lady Angst". Der nächste Paukenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Im Sommer 2015 gab es via Facebook ein euphorisch aufgenommenes Lebenszeichen, inklusive einem echten Knallbonbon: Es geht wieder! Und es gibt wieder Musik! Ja, gar eine neue Band: Von Brücken. Für die 14 Songs auf "Weit weg von fertig" sind ausschließlich Müller (Texte) und sein langjähriger Freund und ehemaliger Jupiter-Jones-Livemitstreiter Tobias Schmitz (Komposition und Tasteninstrumente) verantwortlich. "Deutschpop mit Kopp" nennen die beiden ihr Schaffen und treffen damit den Kern.
Man könnte auch die Umschreibung "unpeinlicher Radiopop" bemühen, wie die Single "Gold gegen Blei" unterstreicht. Sie hält nicht nur selbstreflexive Textzitate bereit, sondern auch treffende Beobachtungen zu unserer Leistungsgesellschaft: "Ihr Rastlosen tauscht euer Gold gegen Blei / Und tut so, als wär das gewollt / Stellt euch ein Glück vor, wie ihr's aus den Liedern kennt / Und werdet davon überrollt." Mit dem Zusatz "Ich bin einer von Euch" unterstreicht Müller, dass es schwer ist, sich der Alltagshektik zu entziehen. Er vermag es nach wie vor, Intim-Persönliches ("Mein furchtbar besoffenes Herz", "Yukon"), deutliche Kritik an rechter Hetze, Verschwörungstheoretikern ("Blendgranaten") oder stumpfem Schwarz-Weiß-Denken ("Ist gut, Mensch") sowie subtile Beobachtungen ("Elephanten") in passende Worte zu hüllen.
Wie immer ist es ein nachhaltiges Erlebnis, wenn Müllers Texte wirken, wenn feine Metaphern zu schüchtern-eleganten Botschaftern werden. Ein Paukenschlag auch die Spielzeit: Mit fast 70 Minuten ist "Weit weg von fertig" ein wahres Mammutwerk geworden. Für Streicheleinheiten sorgt neben Müllers Stimme auch die Stimmung, die sich meist zwischen einfühlsamem Piano-Pop und opulentem Indierock bewegt. Die üppige Produktion und Schmitz' detaillierte Ideen zur Instrumentierung untermauern die Ansprüche: Zeigte schon "Still" die Von-Brücken-Facette in Müllers Songwriting, geht das elegische Klavier-Stück "Die Parade", das den Bogen von der Vergangenheit zur Vergänglichkeit schlägt, noch mal ein ganzes Stück weiter. "Wann bringst Du mich nach Hause? / Egal wie weit / Egal, was immer das auch heißt" fragt das hymnische "Immerhin (Für die Trauer)" voller Unsicherheit, aber mit Inbrunst, und macht klar, dass Nicholas Müller noch lange nicht angekommen ist. "Weit weg von fertig" aber ist die erste Station auf dem Weg zurück in ein Leben ohne – oder besser: mit der Angst –, der bemerkenswerter kaum sein könnte.
Vielleicht macht's Sinn / Sich nochmal neu zu verirren / Denn jede Suche führt uns näher zu uns
Highlights & Tracklist
Highlights
- Das Türen-Paradoxon
- Blendgranaten
- Die Parade
- Immerhin (Für die Trauer)
Tracklist
- Das Türen-Paradoxon
- Gold gegen Blei
- Lady Angst
- Dann sammele ich Steine (L.K.M.)
- Blendgranaten
- Die Sache mit dem toten Clown
- Die Parade
- Der Tanz
- Mein furchtbar besoffenes Herz
- (Elefanten (feat. Rocky Votolato)
- Irgendwie alles
- Ist gut, Mensch (feat. Thomas D.)
- Yukon
- Immerhin (Für die Trauer)
Im Forum kommentieren
eric
2020-04-03 18:06:36
Schönes Soli- und Solo-Konzert an der Akustischen.
derdiedas
2019-11-18 20:26:11
Och Menno. War nicht mal ein zweites Album im Gespräch?
Liebe Gemeinde,
Es ist ja in der Regel immer ein ganz schlechtes Zeichen, wenn man lange nichts von Freunden hört. So denkt man zumindest. Manchmal sind sie auch einfach in ne Hippiekomune auf Teneriffa ausgewandert, haben dem Internet abgeschworen und sind final glücklich geworden. Oder aber sie überlegen noch, wie sie sagen, was sie sagen wollen. Das gilt für gute, wie für schlechte Nachrichten. Unsere ist ein bisschen in der Mitte, aber auch nur auf den ersten Blick:
von Brücken war einmal. Nun ist es endlich raus. Hat man sich ja denken können. Das Business hat wieder eine Band gefressen, die Streamingmaschinerie und der damit stetig wachsende Erfolgszwang haben die Seele aus ein paar armen Menschen gesaugt, die doch eigentlich nur Musik machen wollten.Alles Quatsch, bis auf den letzten Teil. Wir haben doch einfach nur Musik gemacht! Und das tatsächlich so, wie wir uns das immer gewünscht und vorgestellt haben. Wir haben acht Menschen und einundzwanzig Instrumente auf Bühnen getragen und nichts dem Algorithmus überlassen. Wir haben Songs gespielt, wie wir sie für richtig gehalten haben, in Überlänge, mit wirschen Strukturen oder auch der vollen Breitseite Pop, wenn sie da so hingehört hat. Wir können zurückblicken und mit Stolz sagen, dass wir nur gemacht haben, worauf wir Bock hatten. Das war nicht immer einfach, bedenkt man, dass es für einige der Akteure nun mal auch der Brot und Butter-Job war, aber wir haben uns da in einem Konsens aus Freude und Gemeinschaft getroffen, der den oben erwähnten Hippie-Ausstieg gar nicht so unwahrscheinlich klingen lässt.
Für dieses Ende gibt es keine spektakulären Gründe, keine unheilbaren Zerwürfnisse, nicht mehr Drama, als gewöhnlich und ihr könnt euch doofwühlen, ihr findet nix, was Platz in der Bunten hätte. Wir haben uns alle immer noch und weiterhin wahnsinnig lieb. Deswegen fällt diese Entscheidung jetzt auch doppelt schwer, aber wat mutt, dat mutt.
Wir haben uns geschworen, von Brücken genau so durchzuziehen, wie wir‘s uns erträumt haben. Das Ergebnis konntet ihr euch bei ein paar der schönsten Shows ansehen, die wir alle jemals spielen durften. Uns wäre es zukünftig nicht mehr möglich, genau dieses Herzensanliegen in dieser Form weiterzuführen. Dafür gibt es Gründe und die gehören dann irgendwo auch jedem selbst. Vertraut uns einfach, wenn wir sagen, dass keiner krank oder tot oder ein Idiot geworden ist.
Von Brücken waren Tobi und Nicholas, aber von Brücken waren auch immer und zu jeder Zeit Anne, Ulle, Hazy, Sönke, Roda und Carsten. Und Böde und Florian vom Booking und Management und all die Herzburschen an sämtlichen Reglern und - jetzt mal ohne Flachs - ganz besonders ihr. So’n Ding machste nicht, wenn du nicht dran glaubst, dass da Menschen so richtig ihr Herz dran verlieren. Ihr wart nie geizig dabei, uns das wissen zu lassen. Danke. Tausend Dank. Allen Dank!
Und jetzt bleiben sowieso alle mal ganz entspannt. Es geht alles immer weiter. Vielleicht sogar schon ganz bald. Nicht als von Brücken, der Drops ist liebevoll zu Ende gelutscht und ans Herz geschluckt. Aber wollnwer doch mal sehen!
Wir küssen eure Augen.
Die von Brückens
ichundnichtdu
2017-05-24 00:55:43
So ein gutes Ding! Wer die eher melancholischen JJ-Alben mochte, wird hier richtig glücklich. Die Parade, Elephanten, Irgendwie alles und Yukon sind richtig gute Dinger!
musie
2015-12-19 11:45:26
eines der besseren deutschen Alben des Jahres.
eric
2015-12-07 15:59:14
Wer nicht in der Kölner Kulturkirche dabei sein konnte, kann das Konzert jetzt anschauen. Der Rockpalast hat's online gestellt.
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