
Julia Holter - Have you in my wilderness
Domino / GoodToGoVÖ: 25.09.2015
Kompositionen in Obsessionen
Julia Holter, 30-jähriger Liebling der Kritiker, hatte ihre Probleme mit dem Erschaffen dieses Albums. Das hört man. In jedem einzelnen Song. Und genau das macht ihre vierte Platte so einzigartig, so großartig. Denn dem flüchtigen Sound des Vorgängers "Loud city song" hat sie eine bestechende Dringlichkeit hinzugefügt – mehr Rhythmen, mehr Strukturen, mehr Ausdruck. Klar ist das hier immer noch Nachtmusik in Pop, geschmückt mit Anleihen an Ambient und Folk. Wer sich durch die Nebenarme diverser urbaner Systeme treiben lassen mag, findet hier immer noch den entsprechenden Soundtrack mit den hellschwarzen Melodien. "Everytime boots" kratzt seine Töne aus dem Vorplatz vorm Theater zusammen, nachdem bei der Aufführung von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" vor einer halben Stunde der letzte Vorhang fiel. "Can you bring me a fresher perspective please? Should I be a prouder conqueror just bathing in the light?", singt Holter dann dazu und das alles fügt sich zum perfekten Stimmungsbild zusammen.
Viele Momente der Produktion sind dabei zu klein fürs Studio und zu groß für Holters vier Wände. "How long" könnte mit seinen Streichern einen ganzen Himmel füllen. Nur: Die Kalifornierin lässt den Song nicht. Bei ihr bleiben alle Elemente, alle Spuren auf das große Ganze ausgerichtet. Viele Dinge braucht Holter gar nicht genauer auszuarbeiten. "Lucette stranded on the island" könnte etwa deutlich mehr zum Pop abdriften, doch gerade weil sie ihre Obsession für Diffusitäten im Raum stehen lässt, setzt sich dieses Album überhaupt erst zusammen. Hatten ihre vorherigen Platten bisher oft ein loses Thema, hat sie sich für "Have you in my wilderness" auf ihr Inneres verlassen. Keine literarischen Anspielungen mehr, dafür das eigene Storytelling, das sich aus den verschiedensten Gefühlsinnereien speist: "Late night in lake park I wait for you to see me / My eyes open, standing watch for hours wearing your favorite thing." Wenn ihre Protagonistin dann in "Betsy on the roof" auf dem Dach steht, die Perspektive wechselt und die Geschichte nach wenigen Worten in reine Poesie entgleitet, dann führt Holter den Hörer in ihre Sphären, ihr Reich, irgendwo zwischen Autobahn, Spätkauf, Wald und Wiese.
Trotzdem wird hier nichts verklärt. Das hier ist zwar Romantik, aber die Künstlerin idealisiert hier nicht in ihrem eigenen Kopf, sondern in der Realität. Holter findet die passenden Geschichten für ihren Sound, den passenden Sound für ihre Geschichten. Im Entstehungsprozess hatte sie viele einzelne Teile, die klare Vision fehlte. Holter musste erst einen Blick für "Have you in my wilderness" bekommen, was auch der Intimität des Albums liegt. Das Titelstück zerfasert am Ende fast, nur ihre Stimme hält alles zusammen. Ein paar Streicher schmeicheln sich ein und dann setzt Holter noch einmal an: "Lady of gold, you would fit beautiful in my wilderness / In your waters I've dropped anchor." Sie mag keine Undine sein, die Selbstinszenierung anderer Sängerinnen fällt bei ihr vollständig weg. Sie ist Geschichtenerzählerin. Vermittlerin zwischen den Welten. Damit erschafft Holter nicht nur sich als Künstlerin, sondern auch ihre Musik, ihre Ästhetik – nachtdurchflutete Töne in untergehenden Songs, die in die Gassen führen, die keinen Namen haben.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Silhouette
- Sea calls me home
- Have you in my wilderness
Tracklist
- Feel you
- Silhouette
- How long
- Lucette stranded on the island
- Sea calls me home
- Night song
- Everytime boots
- Betsy on the roof
- Vasquez
- Have you in my wilderness
Im Forum kommentieren
Charlie Brown
2020-10-25 08:03:45
Ich find das so stark, wie Holter als genialische Musikerin mal eben zurückgeht in die frühen 70er und sich einen perfekten Popsong wie "Feel you" mal scheinbar so aus dem Ärmel schüttelt. Sie weiss genau was die Zuhörer bewegt, sie kennt die Zutaten. Die Streicher!!!
Mathematik UND Gefühl...das zeichnet die ganz Grossen aus
Affengitarre
2020-06-05 22:04:27
Die wird jetzt auch mal wieder gehört. So ein wunderschönes Album. Tolle Instrumentierung, wundervolle Stimme, super Songs, da stimmt eigentlich alles.
kingsuede
2019-12-27 11:01:44
Wilderness ist bei mir etwas höher angesiedelt als Aviary, beide sind aber in den Top 25 der 2010er!
hideout
2019-12-26 19:55:06
in meiner Liste, die ich immer noch nicht fertig und abgeschickt habe, ist es auch seehr weit oben. Sehr tolles Kopfhörer-Abendstunden-Album!
Randwer
2019-12-26 17:29:29
So gehen die Geschmäcker unterschiedliche Wege. Mein Lieblings-Julia-Holter-Album ist Loud City Song.
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Referenzen
Surftipps
- http://www.juliashammasholter.com/
- http://www.dominorecordco.com/artists/julia-holter
- http://www.rough-trade.net/2013/08/09/die-amerikanische-ambient-pop-kunstlerin-julia-holter-stellt-ihr-neues-album-loud-city-song-vor
- https://soundcloud.com/juliaholter
- https://www.facebook.com/Julia-Holter-153196178042232/timeline/
- https://twitter.com/JULIA_HOLTER
- https://en.wikipedia.org/wiki/Julia_Holter
- http://www.last.fm/de/music/Julia+Holter
- http://www.laut.de/Julia-Holter
- http://www.discogs.com/artist/1475750-Julia-Holter
- http://www.stereogum.com/1823765/qa-julia-holter-on-her-new-album-have-you-in-my-wilderness/franchises/interview/
- http://www.factmag.com/2015/08/12/julia-holter-have-you-in-my-wilderness-interview
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