Titus Andronicus - The most lamentable tragedy
Merge / CargoVÖ: 07.08.2015
Die Mauer
Als "The wall" in Roger Waters' Hirn zu wachsen begann, war Pink Floyds Bassist auf dem Höhepunkt seiner Frustration mit dem Publikum. Pink Floyd tourten gerade mit "Animals" durch riesige Arenen, und an vielen Abenden bekam Waters Wutanfälle, wenn die Zuschauermassen während der leiseren Songs nicht ruhig waren. Er begann, sich eine Mauer zwischen der Bühne und dem Publikum zu wünschen. Patrick Stickles wünscht sich diese Mauer vielleicht auch manchmal. Allerdings wohl nicht, weil die Zuschauer bei Titus-Andronicus-Konzerten zu laut sind – das scheint eher unmöglich –, sondern um mit seiner manischen Depression klarzukommen. Genau wie Waters hat er, statt eine Mauer zu bauen, ein Konzeptalbum geschrieben. Und das ist bei weitem nicht die einzige Parallele zwischen "The wall" und "The most lamentable tragedy".
Nun haben Pink-Floyd-Vergleiche ja immer eine große Fallhöhe, vor allem in den Augen von Pink-Floyd-Fans. Titus Andronicus aber kommen den britischen Progrockern in Sachen Detailversessenheit, Kompromisslosigkeit und Kreativität nahe wie kaum eine andere Band, auch wenn das Genre zumindest oberflächlich ein ganz anderes ist. "The most lamentable tragedy" hat alles, was ein vernünftiges Konzeptalbum auf den ersten Blick braucht: über 93 Minuten Spielzeit verteilt auf 29 Tracks, die nicht immer Songs sind, Referenzen in alle Richtungen, doppelte Songtitel, ähnliche Songtitel, lange Songs und kurze Songs, Wut und Melancholie, Wahnsinn und Fokus. Von kurzen Ausbrüchen wie dem hingerotzten Lofi-Punkrocker "Lookalike" über manisch-melodiöse Springsteen-Songs wie "I lost my mind" (in diesem Fall die erste Version) bis hin zu langen Rundumschlägen wie "More perfect union" liefert die Band eine fantastische Achterbahnfahrt durch Stickles' Gefühlswelt, die Bandgeschichte und im Endeffekt den ganzen Kreis der Schöpfung, wie es in einer anderen Tragödie heißt.
Die Detailverliebtheit zeigt sich zum einen schon an der Oberfläche. Songtitel wie "Into the void (Filler)" oder "Come on, Siobhán" hantieren mit popkulturellen Referenzen, der Albumtitel spielt auf den eigenen Bandnamen und eben Shakespeares ziemlich haarsträubende Tragödie gleichen Namens an, und "More perfect union" bezieht sich auf das vorletzte eigene Album "The Monitor", dessen Opener "A more perfect union" hieß. Dass sich auch manche Gitarrenlicks in beiden Songs ähneln, ist nur folgerichtig. In diesem Kontext werden selbst die 78 Sekunden Stille von "[Intermission]" zu einem Kommentar auf Metaebene. Man kann einige dieser Tricks für arroganten Mist halten, aber ignorieren kann man sie nicht.
Wunderbarerweise halten die Songs auch abseits von Gimmicks und Anspielungen dem Anspruch des Albums stand. Das Grundtempo ist hoch, vieles klingt rauer als zuletzt, und Stickles verbeißt sich lyrisch mit seinem typischen Sarkasmus in Gender-Stereotype, Depressionen und die zwischenmenschlichen Katastrophen des Alltags. Dass die Band dazu beispielsweise in "Lonely boy" gutgelaunten Rock'n'Roll spielt, passt zu der immer noch ungebändigten Energie, die Titus Andronicus zum Glück auch auf ihrem vierten Album nicht verloren haben. Weitere Indizien: Die zweite, kürzere Version von "I lost my mind" ist ein bisschen zu schnell und schludrig und genau deswegen als Reprise so großartig. "Come on, Siobhán" ist ein herzzerreißend naives Liebeslied, inklusive Geigeninferno. Und "Into the void (Filler)" ist in Sachen Dynamik der genaue Gegenentwurf zu Black Sabbath.
Ob sich Titus Andronicus in Sachen Konzeptalbum mit "The most lamentable tragedy" selbst übertroffen haben, hängt von der Frage ab, ob man die historische Wucht von "The Monitor" oder die persönlichen Tragödien auf dieser Platte bevorzugt. Allein, dass sich diese Frage stellt, ist aber schon ein Kompliment. In Sachen geglückte Konzeptalben hat die Band bisher zwei von zwei möglichen Volltreffern gelandet. Wie viele Bands außer Pink Floyd können das noch von sich behaupten?
Highlights & Tracklist
Highlights
- No future part iv: No future triumphant
- Lonely boy
- I lost my mind
- (S)He said / (S)He said
- Come on, Siobhán
- Into the void (Filler)
Tracklist
- CD 1
- The angry hour
- No future part iv: No future triumphant
- Stranded (On my own)
- Lonely boy
- I lost my mind
- Look alive
- The magic morning
- Lookalike
- I lost my mind
- Mr. E. Mann
- Fired up
- Dimed out
- More perfect union
- [Intermission]
- CD 2
- Sun salutation
- (S)He said / (S)He said
- Funny feeling
- Fatal flaw
- Please
- Come on, Siobhán
- A pair of brown eyes
- Auld lang syne
- I'm going insane (Finish him)
- The fall
- Into the void (Filler)
- No future part v: In endless dreaming
- [Seven seconds]
- Stable boy
- A moral
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Coaxaca
2016-05-18 17:48:47
Habe jetzt auch endlich mal Zeit und Muse gefunden, mich mit diesem auf den ersten Blick überladenen Album intensiver auseinanderzusetzen. Die erste CD gefällt mir bisher deutlich besser als die zweite und verfügt auch nicht über solch störenden Bodensatz wie das oben bereits angesprochene "Stable Boy". Mir gefällt die wiederentdeckte Härte; der Sound erinnert auch positiv an The Hold Steady.
Uliver
2016-05-18 15:10:13
Auf Dauer ganz schön anstrengend. Klingt klischeehaft für ein Doppelalbum, aber auch hier wären 20 Minuten weniger mehr gewesen.
saihttam
2016-01-02 18:21:19
Ich fand Local Business eigentlich auch ganz schick. Nach hinten raus mit ein paar Fillern, aber sicherlich nicht schlecht. An das neue Album habe ich mich aber auch noch nicht rangewagt.
Eliminator Jr.
2015-12-31 22:55:50
Ich weiß ja wirklich nicht was alle an Local Business auszusetzen haben. Sehe sie gleichwertig mit dem Debüt und beide knapp über der neuen. Monitor steht hoch oben auf dem Olymp der 100 besten Platten aller Zeiten.
The MACHINA of God
2015-12-31 19:41:05
UNd die ist ja wirklich ziemlich gut. Nohc kein "Monitor", aber deutlich besser als der Vorgänger.
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