Princess Chelsea - The great cybernetic depression
Flying Nun / Lil' Chief / CargoVÖ: 05.06.2015
Nicht aus Zucker
Hätten Sie's gewusst? 2010 trennten sich in Neuseeland 420 Paare infolge von Streitigkeiten über Zigarettenkonsum. Liest sich wie das Kernargument einer großangelegten Anti-Rauch-Kampagne der dortigen Gesundheitsbehörden, ist aber eine Einblendung am Ende des Videoclips zu Princess Chelseas Song "The cigarette duet". In diesem diskutieren Chelsea Nikkel und ihr musikalischer Sozius Jonathan Bree im Pool über das Für und Wider von blauem Dunst – zu einem somnambulen elektronischen Shuffle, der wirkt, als würden sich zwei Androiden in Gestalt von Lee Hazlewood und Nancy Sinatra gegenseitig mit Nikotinpflastern bekleben. Die 20 Millionen YouTube-Klicks hat sich dieses köstliche Stück Kammer-Pop redlich verdient – es blieb nicht das einzige auf Nikkels zauberhaftem Debüt "Lil' golden book".
Doch wer hinter dem Alias der Musikerin aus Auckland den Lebensentwurf "Ich schmeiß alles hin und werd Prinzessin" vermutet, ist ziemlich schief gewickelt. Schon unter dem knuffigen Artwork von "Lil' golden book" verbarg sich eine unheimliche Albtraum-Dimension, und Nikkel selbst macht auf dem Cover ihres Zweitlings trotz Blümchen im Haar einen eher betrübten Eindruck. "The great cybernetic depression" – das kann sowohl die Einsamkeit im Internetzeitalter sein als auch die immer noch häufig verkannte psychische Störung. Und wetten, es findet sich jemand, der der in einer lichtlosen Ecke kauernden Person die – gelinde gesagt – wenig hilfreiche Frage "Is it all OK?" stellt? Gut, dass Nikkel im gleichnamigen Stück die passende Antwort parat hat: "Sometimes I feel so sad I wish that I would die / Other people they don't know, they think that I'm all right."
Unterstützen lässt sich Nikkel erneut von Bree, mit dem sie bereits bei The Brunettes gemeinsame Sache machte. Der Multiinstrumentalist gibt im erwähnten Song den Leidensgenossen, übernimmt bei der entrückten Reverb-Ballade "We are strangers" den desillusionierten männlichen Part einer unmöglichen Liebe und überzieht viele Stücke außerdem mit einer Stromgitarre in Technicolor. Etwa den surrealen Schleicher "No church on Sunday", der vom Ausbrechen aus kleinbürgerlicher Gottesdienst-Piefigkeit schwärmt, während Sequenzen und kleine Melodien perlen und Nikkel so lieblich singt wie nach einer Tasse Tee mit zehn Würfeln Zucker. Und dank des kläglichen Miauens in "Winston crying on the bathroom floor" weiß der Hörer sogar, wie Princess Chelseas Katze heißt. Twee-Pop in seiner schönsten, aber auch scheinzahmsten Form.
Da überhört man fast, dass der zart gen Weltraum entschwebende Ohrwurm "Too many people" den Hass auf Menschen verhandelt, die sich ausschließlich für "their fucking shit" interessieren, oder "We are very happy" sich die Vollkommenheit der eigenen Beziehung lediglich in die Tasche lügt. Saint Etienne oder Stephin Merritts Electronica-Projekt Future Bible Heroes sind zuweilen zum Greifen nah in diesem so exquisiten wie distinguierten Pop-Kosmos – dass sich das leicht käsige Arrangement von "We were meant 2 B" kurz Chris de Burghs "The lady in red" annähert, tut kaum etwas zur Sache, denn trennen kann man sich zu allen Songs von "The great cybernetic depression" hervorragend. Die gute Nachricht: Neben diesem hinreißenden Album gibt es noch andere Dinge, die das Leben lebenswert machen. Oder rauchen Sie etwa nicht gerne?
Highlights & Tracklist
Highlights
- Is it all OK?
- No church on Sunday
- Too many people
- We are strangers
Tracklist
- When the world turns grey
- Is it all OK?
- No church on Sunday
- Too many people
- We are very happy
- We were meant 2 B
- Winston crying on the bathroom floor
- We are strangers
- We're so lost
- All the stars
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Jennifer
2015-07-01 23:15:07
Frisch rezensiert. Meinungen?
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