
The Hirsch Effekt - Holon : agnosie
Long Branch / SPVVÖ: 24.04.2015
Fest der Hiebe
Und es begab sich zu jener Zeit, an Heiligabend im Jahre des Herrn 2012: Nach abendlich-familiärem Beisammensein entschied ich mich für ein wenig nächtlich-alkoholische Clubkultur. Ich landete – wie so häufig – in jenem Karlsruher Schuppen, in dem sogar Plattentests.de-Chef Linder schon vor mehr als zehn Jahren ein Gläschen gehoben hatte. Schon nach wenigen Augenblicken wandte sich mein Interesse – wie so häufig – einem Mädchen zu. Ich sprach sie an, wir tanzten. Doch schon nach kurzer Zeit gesellte sich ein Nebenbuhler hinzu. Es kam – wie so häufig – zum testosteronschwangeren Cockfight: Wer von uns beiden mochte wohl mehr über Musik wissen? Zu meinem Entsetzen glänzte mein Kontrahent mit einem ausgezeichneten Fachwissen. Und dann das: Mit The Hirsch Effekt brachte er einen Namen auf den Tisch, der mir gänzlich unvertraut war. Im August sei das Album "Holon : anamnesis" erschienen, erklärte er, "Indie-Progressive-Emocore", wusste er verschwurbelt ein Genre zu benennen.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren seit jenem Vorfall, übte ich mich in Wiedergutmachung, hörte neben genanntem "Holon : anamnesis" auch das 2010er "Holon : hiberno" in Heavy-Rotation. Ich informierte mich, besuchte Konzerte und begann zu warten. Zu warten auf den dritten Teil der Saga: "Holon : agnosie". Nun endlich erscheint die neue Platte der Hannoveraner Mannen und reiht sich bestens ein in das bisher Dagewesene. Jedoch ist genauso eine Weiterentwicklung zu erkennen: Das dritte Album des Dreiers übt sich weiterhin in strukturierter Unstrukturiertheit, bleibt wie seine Vorgänger gnadenlos virtuos, doch streut hier und da eine Prise Salz ins Geschehen, indem das Tempo zeitweise noch deutlicher gedrosselt (und anschließend wieder hochgefahren) wird oder Bläser und Streicher verhältnismäßig großflächig zum Einsatz kommen. "Holon : agnosie" ist direkter als seine Vorgänger und folglich auch noch ein wenig lauter, noch ein wenig vordergründig chaotischer.
The Hirsch Effekt bleiben weiterhin wahnsinnig, wahnsinnig schwer zu durchschauen. Während die Klarpassagen deutliche Parolen ausgeben, wie schon etwa im Opener "Simurgh", welcher sich ganz gemächlich bis zur Explosion aufbaut, kommen die Scream-Phasen immer mit dem entsprechenden musikalischen Wirbelsturm daher. Dem wilden "Bezoar", dessen Doublebass auch in höchster Not kaum einmal von der Stelle weichen will, folgt das tieffliegende "Tombeau", mit dem urplötzlich Ruhe einkehrt. Das langsame Piano wird von einer Gezupften unterstützt, während Sänger Nils Wittrock hoffnungsvolle Klagen anstimmt. Das Zwischenstück "[Tischje]" bleibt wie die meisten seiner Art im wirren Treiben verwurzelt, liefert jedoch den Takt für das folgende "Dysgeusie", als Wittrock "Halt endlich Deine verfickte Fresse" ins Mikrofon flüstert und Schlagzeuger Moritz Schmidt anzählt. In ebendiesem gibt es ganz infernal aufs Maul: Nicht nur die Gitarren stürmen wütend nach vorn, sondern wenn dem Scream ein Chor Beistand leistet, jagt einem der kalte Schauer über den Rücken.
Als Hörer bewegt man sich auf "Holon : agnosie" noch mehr zwischen Lachen und Weinen, zwischen Selbstbeschuldigung und Tabula Rasa als auf seinen Vorgängern. Das Titelstück "Agnosie" liefert all jenes in seiner siebenminütigen Spieldauer: Eingangs nimmt das Stück den Vorschlaghammer in die Hand, bis das Gitarrengewitter klaren Riffs weicht und Wittrock chorusähnliche, selbstreflexive Zeilen singt, bevor der Himmel wieder zuzieht. "Es dringt in jede Zelle ein", keifen The Hirsch Effekt schließlich, eine Violine tritt ins Geschehen und trägt ein Gefühl endzeitlicher Ausweglosigkeit nach vorn. "Agnosie" bedeutet übrigens Unwissenheit, und diese ist es schließlich, die der Wut und der Verzweiflung, der Fremdabscheu und der Selbstverteufelung zugrunde liegt. Im textlich wenig, im musikalischen Sinne aber äußerst feinsinnigen "Emphysema" wird dies etwa so ausgedrückt: "Dieses Leben, das Du angeschleppt hast, ist mir egal." Hasse Deinen nächsten wie Dich selbst, Hauptsache es geht irgendwem an den Kragen. Wie unpassend, dass mir The Hirsch Effekt gerade am "Fest der Liebe" begegneten. Wie es ausging in jener weihnachtlichen Nacht? Während mein Gegenüber und ich uns im musikalischen Schwanzvergleich verloren, hatte sich die umgarnte Schönheit längst fortgeschlichen ...
Highlights & Tracklist
Highlights
- Agnosie
- Tombeau
- Emphysema
- Dysgeusie
Tracklist
- Simurgh
- Jayus
- Agnosie
- [Chelicera]
- Bezoar
- Tombeau
- Emphysema
- [Defaetist]
- Fixum
- Athesie
- [Tischje]
- Dysgeusie
- Cotard
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Affengitarre
2021-09-03 17:54:06
Schon unfassbar, was alleine im großartigen "Bezoar" passiert. In den ersten 2 Minuten wird sich wild durch alle Unterkategorien des härteren Metals gespielt, dann kommt der poppige Refrain, der mich ein wenig an "Bloodmeat" von Protest the Hero erinnert, dann diese bekloppte Ansprache bei der ich mir ein Grinsen nie verkneifen kann. Wie das alles dann wieder immer weiter ins Dissonante kippt und ein Strom der Dunkelheit und Wucht entsteht, fantastisch. Mein geheimer Liebling ist aber wohl "Athesie". Eher balladesk, aber mit so vielen schönen Ideen angereichert. Diese leicht abgehackten Parts, dieser 8-Bit Beat, der sich dazuspielt und dann natürlich dieser Refrain. Ansonsten liebe ich noch die Bläser, die das Album enorm bereichern.
Zappyesque
2020-03-21 20:08:18
*doch grad
Zappyesque
2020-03-21 20:07:54
Ok. Allerdings hat sich grad „ Option“ mit widower sehr emotionale Aspekte.
The MACHINA of God
2020-03-21 20:07:03
@Zappy:
Bin grad eigentlich selten in Baller-Stimmung. Und grad die letzten 3 Dillinger geben mir nicht mehr soviel. Ist halt eine Band, die für mcih nur technisch und kein Stück emotional wirkt.
Neuer
2020-03-21 20:06:39
Ja, demnächst noch Eskapist, um die Sache rund zu machen :) Und wenn Kollaps raus kommt, dann die auch noch
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Referenzen
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- http://www.visions.de/artists/14486/the-hirsch-effekt
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