Blur - The magic whip

Parlophone / Warner
VÖ: 24.04.2015
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Oh, we could start over again

Im Zufall steckt eben doch häufig ganz schön viel Potenzial: Die Nachricht, dass Blur tatsächlich eine neue Platte im Kasten hätten – im Februar diesen Jahres schlug sie ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Im Gegensatz zu etlichen anderen, lang ersehnten Comebacks blieb die Gerüchteküche jedoch zuvor erstaunllich kalt, nicht einmal kühnste Optimisten rechneten mit einem Lebenszeichen der Brit-Pop-Ikonen, zumal kaum ein Jahr seit Damon Albarns "Everyday robots" verstrichen war. Als die Bombe platzte, verstreute sich der Rauch flächendeckend und wehte nebenbei auch in die heiße Promotionsphase von Noel Gallaghers "Chasing yesterday" hinein – ein Schelm, wer da an alte Rivalität denkt, zumal der ständig bemühte Oasis-Blur-Vergleich rein musikalisch selten wirklich nachvollziehbar war.

Ohne eine große Portion Zufall jedenfalls hätte "The magic whip", Blurs erstes Studioalbum seit zwölf Jahren, wohl nie das Licht der Welt erblickt. Im Frühjahr 2013 befand sich die Band – wohlgemerkt in "13"-Besetzung – auf Welttournee durch Asien, als sich in Hong Kong die Konzertplanung spontan um fünf Tage nach hinten schob. Was also tun? Alex James, Dave Rowntree, Graham Coxon und Damon Albarn legten sich nicht auf die faule Haut, sonden nutzten die just wieder aufgeblühte Bühnen-Synergie zu einem Ausflug in die Avon-Studios in Kowloon, um dort Songideen auszutauschen und ein wenig drauflos zu jammen. Weil das den vieren anscheinend sogar Spaß bereitete, brachen sie die Zelte erst wieder ab, als die Tour fortgesetzt werden wollte. Eines der Abbilder dieser spontan entfachten Freude an der Wiederbelebung der Band ist das vorab veröffentlichte, schräge "Go out", das mit prominentem Basslauf, etlichen "Oh oh oh"s, verzerrten Coxon-Gitarren und einem fast nölenden Albarn am Mikro eine Duftmarke abgibt, die kaum nach dessen Solo-Material riecht.

Das eröffnende, ebenfalls vorab bekannte "Lonesome street" samt simplem Coxon-Riff und typischem Blur-Beat sowie der zappelige Instant-Hit "I broadcast" erinnern gar an die "Parklife"-Ära und versprühen juvenile Leichtigkeit. Die allerdings währt nicht ewig, denn "New world towers" besitzt eine zarte, reduziert-elektronische Seele und lässt die Vorahnung zu, dass bei Blur im Jahr 2015 auch ein Track wie "Thought I was a spaceman" in den Kontext passt: Beinahe stoisch fließt und pluckert das Stück auf Electronica-Teppich und zu Albarns meditativem Gesang fast drei Minuten dahin, bevor Rowntree ein Einsehen hat, den Takt anzieht und Bass und Gitarre langsam Druck machen, das Zepter aber nicht vollends übernehmen dürfen. Jam-Session hin oder her – dass Blur nach wie vor großartiges Songwriting beherrschen, zeigt auch das melancholische, zunächst an der verdunkelten Bar vorglühende, dann Richtung Tanzbereich auflodernde "There are too many of us".

Doch schon jetzt ist auch klar: "The magic whip" ist nicht die Rückbesinnung auf die Zeiten vor dem monumentalen "13", kein reines Konglomerat aus Solo-Stoff der beiden musikalischen Ideenstifter und noch weniger die logische Weiterentwicklung nach "Think tank". Natürlich steckt hier Erbgut aus unterschiedlichen Schaffensphasen Albarns und Coxons drin, das achte Blur-Album aber hat auch die Band wieder in der DNA. Und so stört es kein bisschen, dass das fluffige "Ong ong" einfach nur ein beschwingter "Lalala"-Popsong sein will, der herrlich plump auf das fesselnde "Pjongyang" folgt, eine nachdenklich-bewegende Momentaufnahme aus der nordkoreanischen Hauptstadt, während "Ghost ship" seine entspannten musikalischen Synapsen am Funk-Mast ausrichtet. Ein wenig Fahrtwind des letzten Albarn-Werks gönnt sich "My terracotta heart", klimpert sich dabei aber auch wohlwollend ins Ohr.

Lange war mehr als ungewiss, ob dieses Hong-Kong-Material überhaupt jemals veröffentlicht würde – zu kritisch ging Albarn damit ins Gericht. Coxon, wie der Rest der Band nach Beenden der Welttour längst wieder in den Alltag eingetaucht, spürte jedoch Ende 2014 den Drang, sich die auf Halde lagernden Aufnahmen und Fragmente vorzuknöpfen, daran zu schrauben und zu winden. Gemeinsam mit Stephen Street, zuletzt 1997 Blur-Produzent, finalisierte er die Stücke schließlich, nachdem Albarn grünes Licht und Lyrics eingereicht hatte. Auch wegen Coxons feinem Blur-Gespür klingt "The magic whip" nach einer ungezwungenen Momentaufnahme, die Blurs Identität bewahrt und jederzeit Experimente zulässt. Ein äußerst gelungenes solches ist auch das Quasi-Titelstück "Ice cream man", dessen Beat zunächst Gorillaz ins Spiel bringt, bis zarte Percussion, Akustikgitarren und Synthie-Effekte zielgerichtet zum Refrain tragen, der trotz ernster Lyrics sein Pop-Herz in die warme Jahreszeit trägt. In der wünscht man sich bekanntlich viel Sonne – und mehr solch tolle Zufälle wie "The magic whip".

(Eric Meyer)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lonesome street
  • New world towers
  • Ice cream man
  • I broadcast
  • There are too many of us

Tracklist

  1. Lonesome street
  2. New world towers
  3. Go out
  4. Ice cream man
  5. Thought I was a spaceman
  6. I broadcast
  7. My terracotta heart
  8. There are too many of us
  9. Ghost ship
  10. Pyongyang
  11. Ong ong
  12. Mirrorball
Gesamtspielzeit: 51:14 min

Im Forum kommentieren

PKingDuck92

2023-08-09 13:39:08

Jup, vor allem wenn man die Lyrics Mal näher beleuchtet ist Ong Ong, sowie das komplette albun offensichtlich eine Liebeserklärung an die Stadt... Vorher war es für mich nur eine gefühlte...

Blur damals einfach völlig überraschend neues Album rausgehauen, und ich als Fanboy zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gehört...

Musik kann so magisch sein!

Enrico Palazzo

2023-08-09 13:18:32

Ich habe noch nie drüber nachgedacht, dass Ong Ong Hong Kong heißen könnte :D Macht aber Sinn.

PKingDuck92

2023-08-09 12:20:39

@Enrico Palazzo: haha danke für die Erwähnung, ich schwöre das Wortspiel ((h)ong (k)ong) ist mir gerade zum ersten Mal aufgefallen, genauso das Lantau Island im Song erwähnt wird... Ich hab damals nur sehr beiläufig auf die Lyrics geachtet, meine Englischkenntnisse waren zu der Zeit auch wirklich noch sehr sehr Basic :D

Bei Ong Ong sitze ich da eher im Taxi zurück zum Flughafen, ich höre das "i wanna be with you" und denke mir: JA!

@Ituri: "too many of us" passt lyrisch auf jeden Fall zu Kowloon, auf Hong Kong Island hingegen sind die Skyscraper und Wohnblocks umringt von Wäldern, saftigen Hügeln und Grünflächen... Die damalige Regierung gav sich hier große Mühe trotz der großen Anfrage auf Wohnraum, die Schönheit der Natur dort zu erhalten. Deshalb will da jeder wohnen, was dazu führt das selbst sehr sehr gut betuchte Einwohner meist in relativ kleinen Apartments hausen. "New World Towers" und ich beobachte diese in Nebel gehüllte Szenerie von den Hügeln Hong Kong s, auch wenn es sehr anders als in den Lyrics beschrieben.

Lantau Island erinnert hingegen stellenweise an eine Tropeninsel wie man sie eher in Thailand erwarten würde... Das sich wenige Kilometer entfernt eine überfüllte Millionenstadt befindet ahnt man hier kaum!

Bei "Pjöngjang" denke ich vor allem sofort an die Nähe, und damals schon spürbare Diskrepanz zum (ebenfalls wie Nordkorea) kommunistischen China... Die Einwohner Hong Kong s als Chinesen zu bezeichnen war für sie eine außerordentlich Beleidigung... In der Mentalität sind die Einwohner auch deutlich näher an den Taiwanesen, auch der britische Einfluss deutlich spürbar, vor allem durch den trockenen Humor...

Aber ja sry das ich jetzt nicht auf alle Songs eingehe, schreibe hier immer Mal wieder wenn ich gerade ne Klo oder Zigarettenpause einlege :D

Vielleicht noch Lonesome Street, der Moment nach der Ankunft, wie ich mich fasziniert und geflasht von den Eindrücken alleine im Dunkeln durch Kowloon schlage auf der Suche nach meiner Unterkunft

fuzzmyass

2023-08-09 11:03:44

immer noch ganz tolles Album

Ituri

2023-08-09 11:00:54

Tolle Story, PKingDuck! Schreibe doch zu jedem anderen Song auch etwas.. Mich interessiert's. "There are too many of us" muss doch da auch prima rein passen, oder?

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum

  • Blur (146 Beiträge / Letzter am 19.11.2022 - 18:34 Uhr)