Sufjan Stevens - Carrie & Lowell
Asthmatic Kitty / CargoVÖ: 27.03.2015
Das Familienalbum
Na, wo bleiben sie denn, die restlichen 48 Bundesstaaten? Es ist eine mittlerweile bekannte Geschichte: Zur Veröffentlichung seines 2003er Albums "Michigan" kündigte Sufjan Stevens das "Fifty states project" an, und damit das Vorhaben, 50 Alben aufnehmen zu wollen, die nach allen Staaten der USA benannt werden sollten. Auf "Michigan" folgte zwei Jahre später "Illinois", seitdem stockt das Projekt. Pünktlich zu jeder Neuankündigung fragt man sich nun, wann es in der Serie endlich weitergeht, dabei hat Stevens selbst mittlerweile bekanntgegeben, dass es sich eigentlich nur um einen Scherz gehandelt habe. Mit seinem siebten Studioalbum zollt der 39-Jährige wieder keinem Ort, sondern seiner 2012 verstorbenen Mutter Carrie und seinem Stiefvater Lowell Tribut und erzählt von verschiedenen Familiengeschichten aus seiner Kindheit – im Grunde ist "Carrie & Lowell" also "Oregon", wenn man so will. Und nicht nur textlich geht es hier zurück zu den Wurzeln.
Nach dem künstlich-kühlen Elektro-Ambiente von "The age of adz" orientiert sich Stevens wieder an seinen folkigen Anfängen und schafft damit eine ruhige, fast schon intime Atmosphäre. Es wirkt, als säße man mit ihm im Haus seiner Mutter, als würde er auf Fotos deuten und die Stories dahinter erzählen, als habe man Carrie selbst gekannt, als wäre man stets dabei gewesen. Stevens selbst ist bei seinem Vater aufgewachsen und hat sie in Oregon nur besucht, die Erinnerungen scheinen manchmal blass wie Urlaubsbilder und doch wieder klar und deutlich. Die Themen Liebe und Tod, aber auch Wut und Verzweiflung bilden den roten Faden, der die elf Stücke durchzieht, die selten von mehr als einem Piano und einer Gitarre begleitet werden. "Carrie & Lowell" ist eines dieser Alben, die den Hörer mit ihrer Ruhe und Emotionalität packen, nicht mit stürmischen Experimenten. Das beweist schon der Opener "Death with dignity", der auf tragische Weise die Endgültigkeit des Abschiednehmens von seiner Mutter verdeutlicht: "I forgive you mother, I can hear you / And I long to be near you / But every road leads to an end", singt er da, während die Gitarrensaiten nur sachte gezupft werden, und beendet bereits dieses erste Stück mit den klaren Worten "You'll never see us again." Falls irgendjemand dachte, dass man hier nur bloßer Zuhörer wäre, der irrt gewaltig: Schnell befindet man sich in einem Sog der Gefühle und ist mittendrin statt nur dabei.
Dennoch blickt Stevens auf "Carrie & Lowell" nicht nur in den Abgrund und die Dunkelheit, die solch lebensverändernde Situationen schaffen. Im ersten großen Highlight "Should have known better" wirkt der Blick zurück eher liebevoll als traurig, die Aussicht nach vorne eher glücklich als skeptisch: "Don't back down / Nothing can be changed / Cantilever bridge / The drunken sailor / My brother had a daughter / The beauty that she brings / Illumination", singt er zum Banjo von "Seven swans". Auf die melancholische erste Hälfte folgt eine fröhliche zweite, als wäre das Glas plötzlich halbvoll statt halbleer. Es bleiben rar gesäte Momente auf dem Album. In "Eugene", das nach einer Stadt in Oregon benannt wurde, durchläuft Stevens verschiedene Stationen zwischen Trauer und Gefasstheit, im morbiden "Fourth of July" erzählt er von verschiedenen toten Tieren und stellt fest, was jeder weiß und worüber niemand zu genau nachdenken will: "We're all gonna die." In "The only thing" sinniert er anschließend über seinen eigenen – möglicherweise selbst herbeigeführten – Tod. Spätestens hier wird klar, was er in seinem Interview mit den Kollegen von Pitchfork meinte, als er sagte: "Don't listen to this record if you can't digest the reality of it."
Nur allzu real fühlt es sich dann auch an, wenn Stevens in "No shade in the shadow of the cross", der ersten Single des Albums, berichtet, dass er anfangs nur dank einer Menge Pillen mit dem Dahinscheiden seiner Mutter fertig wurde. Wie in Trance erzählt er von seiner Kindheit, von The Dalles, einer weiteren Stadt in Oregon, und von seinen verzweifelten Verhandlungen mit Gott, der ihn in seiner schwersten Stunde scheinbar verlassen hatte. Auch im minimalistisch intrumentierten "John my beloved" befindet er sich im Zwiespalt, fleht förmlich "Jesus, I need you / Be near me / Come shield me" und bleibt am Ende dennoch allein, ein Schatten seiner selbst, zumindest körperlich anwesend – geistig jedoch so weit weg, dass es sich anfühlt wie aus einer anderen, fremden Welt. "Carrie & Lowell" ist ein zartes, aber hartes Album. Eines, das sich nach und nach festbeißt, das man kaum abschütteln kann – und authentisch wie kaum ein anderes. Mit echten Gefühlen, der Brutalität der Wahrheit, dem Schmerz des Verlustes, aber auch voller Hoffnung auf eine gute, wenngleich anders als erwartete Zukunft.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Should have known better
- Fourth of July
- John my beloved
- No shade in the shadow of the cross
Tracklist
- Death with dignity
- Should have known better
- All of me wants all of you
- Drawn to the blood
- Eugene
- Fourth of July
- The only thing
- Carrie & Lowell
- John my beloved
- No shade in the shadow of the cross
- Blue bucket of gold
Im Forum kommentieren
Hierkannmanparken
2023-03-03 19:49:28
Carrie & Lowell :(
Carrie & lol :)
Das Album ist für mich im wörtlichen Sinne überwältigend. Muss mir schon genau überlegen, wann ich mir das anhöre. Seine anderen Alben sind natürlich auch rührend und tragisch, aber hier geht die Stimmung der Musik konsequent mit dem Inhalt mit.
AliBlaBla
2023-03-03 19:42:17
Ich finde "A begginer's mind" das beste, und zwar nich lediglich von S.S. (&AdA), sondern in dem....kompletten Genre. Carrie&Lowell natürlich auch sehr berührend und aufrüttelnd...
jo
2023-03-03 19:04:40
Ja, schließe mich euch auch an. "A Beginner's Mind" fand ich aber auch wirklich klasse.
Loketrourak
2023-03-03 15:56:27
Interessant allemal - also diese Unterschiedlichkeit in der Wahrnehmung. Mich lässt es auch eher kalt (age of adz)
Yndi
2023-03-03 15:30:57
Ich gehe an manchen Tagen soweit und sage, dass Age of Adz das beste Album ist, das ich jemals gehört habe.
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