Kante - In der Zuckerfabrik

Hook / Indigo
VÖ: 06.02.2015
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Irre regulär

Ist das jetzt eine reguläre Kante-Veröffentlichung oder nicht? Nichts Genaues weiß man nicht. Mit "In der Zuckerfabrik" flogen die Hamburger zunächst unter dem Plattentests.de-Radar. Und dann plötzlich Aufregung: Neue Kante-Scheibe! Schon draußen! Und dann ein kleines "Hmpf": Eine Zusammenstellung von Theatermusik, die Kante in den letzten acht Jahren geschrieben und aufgeführt hatten. Also wohl kein deutschsprachiger Sinn-Pop, wie man ihn von der Band kennt und so gerne hat. Jetzt aber kommt's: "In der Zuckerfabrik" featured Theatermusik, die tatsächlich nach Kante klingt, die den Brettern, die die Welt bedeuten, gleichermaßen gerecht wird wie der popkulturellen Bedeutung der Fünfertruppe.

Das Beste aus beide Welten, sozusagen. Und dabei von keiner zu wenig. Ein bisschen irre, ein bisschen verkünstelt, doch nie arty-farty, andererseits poppig bis rockig, dem Wahnsinn nahe inszeniert, mal mit E-Gitarre, mal mit Oboe. Wie es in der Welt des großen Schauspiels nun einmal zugeht, präsentieren sich Kante auf "In der Zuckerfabrik" von todtraurig bis supergut drauf: "Der Tag verging" zum Beispiel, dessen Musik für die Darstellung von Manns "Doktor Faustus" geschrieben wurde, während der Text aus der Feder Dantes stammt, wabert mit Mollpiano und entfernten Pauken den Hades entlang, während "Donaudelta" ein fröhliches Heimatlied mit Chorgesang, gezupfter Akustischer und Country-Anleihen darstellt. Letztes wurde bei der Inszenierung von Peter Handkes "Aus Spuren der Verirrten" vorgetragen. Der titelgebende Opener ist ein modernes Spiritual, das von der Arbeit eines schwarzen Kindes in der Zuckerfabrik erzählt. Dabei liegen die musikalischen Wurzeln des Stücks im Folk und Thiessen klingt ein wenig wie der schmerzlich vermisste Nils Koppruch, wenn er singt: "Das ist der Preis / ... / Damit Ihr da drüben in Europa Euren Zucker genießt." Das Stück wurde dabei zu Voltaires "Candide" aufgeführt.

Am meisten nach Kante klingt unterdessen "Geist der Liebe". Vielleicht sogar ein wenig mehr nach Sport, der Band des Kante-Gitarristen Felix Müller. Der Titel fungiert als drittes Standlied zur Inszenierung von Sophokles' Antigone und kommt mit drückenden Gitarren, Bongo-Beats und mystischer Note daher. Stichwort mystisch: Vor allen Dingen das religiös bestückte "Keine Wegspur, nichts zu sehen", welches passend zu Dostojewskis "Dämonen" aus dem biblisch überlieferten Gespräch Jesu mit der bösen Geisterschar "Legion" zitiert, lässt erschaudern. In den beiden Stücken "My love is as a fever (Sonett 147)" und "The black rider" bekommt man Thiessens Gesang erstmals auf Englisch zu hören. Zweiteres, begleitet von Jazz-Piano, Trompete, Saxophon und Tuba, ist ein überaus gelungenes Tom-Waits-Cover, Ersteres zitiert Shakespeare.

Schon auf "Kante plays Rhythmus Berlin" wurden Texte vertont, die Peter Thiessen für eine Revue am Friedrichstadt-Palast geschrieben hatte – "In der Zuckerfabrik" setzt dieser Chose nunmehr die Krone auf. Vor allen Dingen die Zusammenarbeit mit Regisseurin Friederike Heller und das Engagement am Burgtheater Wien trugen dabei besonders viele Früchte. Im Studio entstand aus dem Sammelsurium der vergangenen Jahre ein in sich schlüssiges Album, welches Kante-Fans gleichermaßen begeistern dürfte wie Theaterfreunde, welche des übertrieben klassischen, wie auch des unangenehm "modernen" Theaters überdrüssig geworden sind. "In der Zuckerfabrik" ist durch und durch ein Kante-Album. Voll von wirren Facetten.

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lied von der Zuckerfabrik
  • Keine Wegspur, nichts zu sehen
  • Donaudelta
  • Geist der Liebe (Drittes Standlied)

Tracklist

  1. Lied von der Zuckerfabrik
  2. Wenn ich Dich begehre gegen jede Vernunft
  3. Das Erdbeben von Lissabon
  4. Morgensonne
  5. Keine Wegspur, nichts zu sehen
  6. Arioso der Shen Te
  7. My love is as a fever (Sonett 147)
  8. Glückselige solcher Zeit (Zweites Standlied)
  9. Das Lied vom Sankt Nimmerleinstag
  10. Lied vom achten Elefanten
  11. Donaudelta
  12. Geist der Liebe (Drittes Standlied)
  13. Der Tag verging
  14. The black rider
  15. Walzer
Gesamtspielzeit: 58:10 min

Im Forum kommentieren

Peter.

2015-08-31 15:11:02

Seit wir als Komparsen am Theater arbeiten,läufts wieder.

nörtz

2015-08-30 19:45:10

Jo, weckt nicht wirklich Hoffnung darauf, dass in Bälde was erscheint.

qwertz

2015-08-30 18:44:23

Ausführliches und leider auch etwas deprimierendes Interview zur Zukunft und Arbeitsweise der Band.

http://www.laut.de/Kante/Interviews/Wir-koennen-davon-nicht-leben-13-08-2015-1277

qwertz

2015-03-22 15:08:43

Die haben am Freitag das Album live im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg aufgeführt. Obwohl ich in die Platte zuvor nicht reingehört hatte, waren die Lieder überwiegend großartig und wurden auf der Bühne sensationell druckvoll umgesetzt. Durch die Ansagen wurden die Stücke zudem zumindest ansatzweise in einen Kontext eingebettet.
Auf CD, die ich seitdem erst wenige Male gehört habe, fehlt da schon ein bisschen die thematische Einordnung. Kann verstehen, wenn man da nicht so den Zugang findet.
Als Zugabe gabs am Freitag dann noch "Die Tiere sind unruhig", "Zombi", "Die Summer der einzelnen Teile" und "Warmer Abend" - in dem Theater-Setting einfach nur Gänsehaut pur!

Sick

2015-02-28 23:18:29

Wie kann man denn "Morgensonne" bei den Highlights vergessen?

Wie kann denn diese extrem künstlerischen Kompilation "beliebig sein"?

Was heißt hier "normale" Kante-Stücke und Theater-Kram?

Was sind denn "gewollte" Stücke?

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