Disappears - Irreal

Kranky / Cargo
VÖ: 23.01.2015
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Gibt's doch nicht!

Wer's noch nicht wusste: Brian Case, Chef-Brummbär von Disappears aus Chicago, spielte früher bei den momentan auf Eis liegenden Garage- und Post-Punks The Ponys Gitarre. Allerdings nur eine Platte lang. Die wiederum hieß "Turn the lights out" – ein Ratschlag, den sich Case für seine nächste Band Disappears hörbar zu Herzen genommen hat. Schon auf "Guider", "Lux" und "Pre language" flackerten die Neonröhren bedenklich, "Era" sendete danach aus dem Kellerloch, doch keine Sorge: Dunkler geht immer. Denn obwohl es das Wort aus dem Albumtitel im Englischen genau genommen gar nicht gibt, klingt "Irreal" so unwirklich, als würde die komplette frühachtziger No-Wave-Szene zu einem krautig wabernden Soundsystem sonnenbebrillt um ein schwarzes Loch voll blubberndem Gebräu ausdruckstanzen. Auf der Stelle, versteht sich.

Auch dem Hörer bleibt nicht viel anderes übrig bei diesen acht unheilvoll brodelnden Tracks aus dem Herzen der Finsternis, die einem mit zunehmender Spieldauer immer dichter auf die Pelle rücken. Aus irgendeiner Ecke dringt unterschwellig blechernes Industrial-Schaben, ein dominanter Backbeat fordert ungeteilte Aufmerksamkeit, und Cases stoisch hervorgepresstes "I want to remember" suggeriert eher, er wolle am liebsten vergessen – zum Beispiel, was Post-Punk überhaupt ist. Trug nämlich bereits "Era" zusehends weniger Züge von diesem, hat sich die Sache auf "Irreal" so gut wie erledigt. Gitarren fungieren oft nur mehr als unruhig klackernde Metronome, während drohende Zerrflächen in Zeitlupe durch die Stücke pulsieren und bodenlose Bass-Walzen die Gläser von den Tischen kippen. Tiefsee statt Kellerloch: Sie befinden sich hier.

Diese Standortbestimmung hindert Disappears allerdings nicht daran, gelegentlich auch im ehemals bevorzugten Soundarsenal zu wühlen und so beklemmende Dinge wie das sich immer wieder in die gleiche Stelle verbeißende Riff von "I / O" zutage zu fördern, das den Song noch eine Spur penetranter macht als den kreuzmonoton paukenden Einstieg "Interpretation". Bei "Another thought" scheinen sich die Bandmitglieder dann gegenseitig zu loopen – mit vom Liars-Trommeltanz "It fit when I was a kid" stibitzter Percussion als Fundament, das die Nebelwand aus morphenden Klangschichten rhythmisch zerschneidet. Und wer auch nur ansatzweise Rockmusik im herkömmlichen Sinne erwartet hat, dürfte die Veranstaltung an dieser Stelle längst entnervt und mit einem erbosten "Gibt's doch nicht!" auf den Lippen verlassen haben.

Gleiches gilt für alle, die bis heute standhaft ignorieren, dass dem Hauptteil von Bauhaus' "She's in parties" noch ein Dub-Reggae-Part folgt. Trotzdem ein feiner Zug von Disappears, dass sie ebendiesen in "Halcyon days" nachmodellieren und sich neben eisigen Versatzstücken kalkweißen Funks sogar zu ein paar vergleichsweise lieblichen Psych-Gitarren hinreißen lassen. Zugegeben: Dem Hörer wäre vermutlich wärmer ums Herz, hätte das Quartett dieses großartig verbissene Album nicht gar so konsequent durchgezogen und den akustischen Gefrierbrand hier und da mit einem straighten Stampfer wie "Replicate" oder "Power" aufgelockert. Andererseits sollte es Warnung genug sein, wenn Case zunächst "Anything can happen" und wenig später "I'm on a new trip" orakelt. Hinterher also bitte niemand sagen, er habe von nichts gewusst.

(Thomas Pilgrim)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Interpretation
  • I / O
  • Halcyon days

Tracklist

  1. Interpretation
  2. I / O
  3. Another thought
  4. Irreal
  5. OUD
  6. Halcyon days
  7. Mist rites
  8. Navigating the void
Gesamtspielzeit: 45:14 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2016-02-13 17:54:20

Oh, tolle Band, die ich tatsächlich erst seit heute kenne. Puh. :)

Desare Nezitic

2015-02-05 18:07:48

Vorgestern dem Gig im King Georg beigewohnt. Diese kleine, feine Clubbar ist, auch wenn der Gig natürlich gut war, meiner Meinung nach nicht so ganz das richtige Setting für diese Musik. Der Band gefällt sie aber, sie waren zum dritten Mal dort. Gespielt haben sie relativ kurz, eine gute Stunde.
Hinterher konnte ich noch ein paar Minuten mit Damon Carruesco quatschen. Sehr netter Mensch und er ist auch ein Fan von "Power" was die Band aber leider nicht gespielt hat. Das "Irreal" nun so geworden ist, wie es ist, sieht er auch als logische Entwicklung an. Gerne weiter in der Richtung.

Herder

2015-01-27 16:19:42

Ja, Desare, das trifft es ganz gut. Kein Album für jeden Tag, wohl dosiert aber sehr effektiv.

Desare Nezitic

2015-01-26 23:03:03

Tja, da soll mal einer sagen, dass es dunkler nicht mehr geht. Ich wäre fast geneigt ihm zu glauben. Monoton, kalt, einsam - musikgewordene Isolationshaft mit einer unheimlichen Stimme im Kopf.
"Intepretation", der Name trifft es, ist ebendiese musikalische Interpretation dazu. "I_O" ist mit einem ganz kurzen Ausbruch auch nicht wirklich lebhafter drauf. Hier regiert ganz spartanisches Rudimentaldrumming und eine sehr kärgliche Restinstumentierung, ansonsten gibt es nur den Gesang, welcher von der alles umschließenden Leere sofort aufgefressen wird. Nur das vorab offiziell releaste "Anaother Thought" weilt ein wenig unter den lebenden, aber das auch nur mehr schlecht als recht. So geht das eigentlich über die kompletten 45 Minuten weiter.
Wo auf "Era" noch ein für Disappears-Verhältnisse hitverdächtiges "Power" war, wird es hier stellenweise bei aller atmosphärischer Brillianz recht zäh. Ein auflockerndes Element in der Albummitte hätte daher sehr gut getan, auch um die Aussagekraft des Schweren zusätzlich zu unterstreichen. Auf der anderen Seite ist das Album aber das Radikalste und Konzeptionellste der Band. Bis hierhin erstmal eine 7.8, ich bin gespannt auf das Konzert nächste Woche.
Highlights: "Interpretation", "I_O", "Halcyon Days"

noise

2015-01-25 23:54:44

Ja, die Scheibe ist wirklich noch trister/trostloser als die letzten ausgefallen. Eine düstere, unheimliche Atmosphäre verbreiten die Songs.

Hier zu hören:
http://3voor12.vpro.nl/luisterpaal/albums/Disappears.html

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum