Andy Stott - Faith in strangers

Modern Love / Rough Trade
VÖ: 21.11.2014
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Das Berühren der Figüren

"Touch." Es war ein einfaches Wort, das Andy Stotts vorzügliches Album "Luxury problems" eröffnete. Und zwar mit einem hypnotischen Loop, der bald wurmartig in sich selbst verschwand und aus Alison Skidmores Vocals ein flirrendes Gewimmel machte. Das dazugehörige Stück hieß "Numb" – trotzdem fühlte der Hörer dabei eine ganze Menge und merkte bis zum Einsetzen rhythmischen Pochens gar nicht, dass irgendetwas fehlte. Für den Auftakt des Nachfolgers hat sich der Elektroniker aus Manchester wieder etwas einfallen lassen. Es klingt wahlweise wie "The dwelling place", eine Instrumental-Eskapade der frühen And Also The Trees, das raumgreifende synthetische Trompeten-Drama "At the heart of it all" von Coil oder "Time xone" aus These New Puritans' "Hidden". Und ist natürlich nichts von alledem.

Nein, "Time away" enthält mitnichten Samples, Keyboards oder Effekte – nicht einmal eine vorsintflutliche Dampfmaschine. Zu hören ist ausschließlich ein Euphonium, ein Blechblasinstrument aus der Familie der Bügelhörner, das hier verhalten zur beinahe rituellen Ouvertüre trötet. Von Andy Stott keine Spur. Erst im zweiten Stück lässt sich der Brite zu einsamen, abwechselnd aufbegehrenden und besänftigend getupften Sequenzen herab, während die erneut anwesende Skidmore eindringliche Mantras singt und an einer Stelle sogar "clap your hands" fordert. In Bewegung versetzt "Violence" zu diesem Zeitpunkt jedoch ausnahmslos die Synapsen – bis nach geschlagenen neun Minuten der erste Beat auf "Faith in strangers" droppt. Und dass dem Hörer da nicht längst der seidene Geduldsfaden gerissen ist, spricht für die Klasse dieser neun Tracks.

Denn Stott weiß genau, was er tut, wenn er allmählich die Zügel fester anzieht, aber immer zielsicher im Spannungsfeld entkernter, ins monotone Extrem vorangetriebener Clubmusik und unwirklich-düsterer Atmosphären operiert. "On oath" fährt daraufhin das gleiche Geschepper mit Industrial-Migrationshintergrund auf, das Kollege Spremberg Forest Swords' "Engravings" bescheinigte – mit dem Unterschied, dass es sich nicht auf präzisen Licks und Streicher-Nebelbänken vorwärtstastet, sondern von den Wänden einer Fabrikbrache widerhallt, die den letzten Rave schon vor langer, langer Zeit gesehen hat. Jetzt sind da nur noch Rudimente scharfer Acid-Lines und grell gedoppelte Interferenzen, die bei "No surrender" oder "Damage" als aufrüttelnde Sollbruchstellen fungieren – beunruhigend und wohlig zugleich.

Doch trotz hölzerner Figur im Artwork verleiht Stott "Faith in strangers" musikalisch durchgängig ein menschliches Antlitz – auch mit Hilfe von Skidmore, deren Stimme die Stücke immer wieder in eine himmlische Dimension überführt, aus "Science & industry" mehr als eine strenge Stilübung auf der Roland-Drummachine macht und sich bei "How it was" durch crunchige Zerrsounds schlängelt. Der Titeltrack funktioniert kurz vor Schluss gar als digitale Interpretation von Dream-Pop mit diskret brummelnder Bassgitarre und naturbelassen sublimierendem Gesang. Womit sich bemühte, zusehends bedeutungslose Genrezuschreibungen wie Dubstep, Ambient oder Techno erledigt haben dürften – und wenn es lange Gesichter gibt, dann höchstens auf dem Cover dieses hervorragenden, berührenden Albums. Ihr wisst schon: "Touch."

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Violence
  • Science & industry
  • How it was

Tracklist

  1. Time away
  2. Violence
  3. On oath
  4. Science & industry
  5. No surrender
  6. How it was
  7. Damage
  8. Faith in strangers
  9. Missing
Gesamtspielzeit: 53:47 min

Im Forum kommentieren

Fiep()

2015-12-01 11:11:12

Ist mir bei vielen Artists aufgefallen,
War bei Ben Frost auch nicht anders.

Eine Person kann auch schwer so viele schichten wiedergeben ohne das es entweder stark abgewandelt oder vom band wiedergegeben wird. Manche fangen dann einfach gleich an zu improvisieren mit kurzen bekannten Melodiebögen zwischendurch.

saihttam

2015-12-01 02:09:38

Man setzt es übrigens einfach gar nicht um, sondern spielt ein Set mit viel Noise und sehr harschen und aggressiven Sounds. War ein bisschen anstrengend, aber mal ne Erfahrung wert.

saihttam

2015-11-13 03:09:28

Damage finde ich etwas anstrengend, der Rest ist aber schon sehr toll. Ich bin gespannt, wie man sowas live umsetzt.

kingsuede

2014-12-18 21:27:13

Noch nuancierter und verwegener als der Vorgänger. 8/10 passt!

hrb

2014-12-01 09:52:03

8/10 passt ziemlich gut, finde ich. Sehr schöner Sound, der Titeltrack gefällt mir persönlich am besten. Sicher nicht die spannendste Electro-Platte des Jahres, aber eine sehr angenehme.

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