Thom Yorke - Tomorrow's modern boxes
-VÖ: 26.09.2014
Über alle Köpfe hinweg
"Hört mal alle her! Thom Yorke veröffentlicht ein neues Album! Wann? Jetzt! Sofort! Über BitTorrent! Für nicht mal fünf Euro gibt es acht Songs und ein Musikvideo!" So schallte es am 26. September 2014 über die Redaktionsflure des Plattentests.de-Hauptquartiers an der Isar. Alle Schreiber ließen sofort ihre Praktikantinnen und den Teller Pilzrahmsuppe stehen, und weil alle wild durcheinander quatschten, jeder es sofort sehen, hören, fühlen und allen anderen davon mitteilen wollte, merkte niemand, dass die dazugehörige "THOM YORKE OMG!!!1elf"-Meldung auf der Facebook-Seite schon vom Kollegen Holtmann gepostet wurde. Und vom Kollegen Bremmer. Und vom Kollegen Müller. Und vom Kollegen Spremberg. Und von ein paar anderen. Sogar von ein paar Leuten, die gar nicht mehr für Plattentests.de schreiben. Alle rissen sie sich darum, einen textlichen Erguss über "Tomorrow's modern boxes" verfassen zu dürfen, sogar der Hausmeister. Sogar Kantinen-Chef Kai-Uwe aus Chemnitz. Sogar die Praktikantinnen.
Pssst, hört mal: Das ist natürlich Blödsinn. Also, nicht die Sache mit dem Album – das gibt es wirklich. Und Yorke hat es auch wirklich selbst über BitTorrent veröffentlicht. Plattentests.de war davon jedoch so überrascht, fast schon überwältigt, dass eine entsprechende Eilmeldung auf Facebook schon nach kürzester Zeit ein alter Hut gewesen wäre. Und tatsächlich meldete sich auf die Frage vom Chef, ob jemand gerade ein bisschen Zeit übrig hat und kurzfristig ein paar Zeilen dazu schreiben möchte, niemand so richtig. Kann das sein? Es kann. Denn das von Langzeit-Kollaborateur Nigel Godrich produzierte "Tomorrow's modern boxes" ist aufs erste Hören harte Kost. Keine schnelle Liebe, keine vorschnell gezückte 10/10, kein offensichtliches Meisterwerk bekommt der Hörer hier serviert.
Stattdessen lässt Yorke seine Anhänger arbeiten. Schon die erste Single "A brain in a bottle" ist ein kleiner Mindfuck, ein nach oben gestreckter Mittelfinger von einem Song, und damit steht sie auch stellvertretend für die restlichen sieben Stücke: Von links nach rechts und wieder zurück schwingt die Melodie langsam durch die Kopfhörer – diese empfehlen sich für "Tomorrow's modern boxes" –, als würden sie durch die eigenen Eingeweide kriechen, ein stotternd-repetitiver Beat gesellt sich zu Yorkes eiskalter Stimme, eine synthetisch-sterile Decke überzieht den Raum. Das dazugehörige Musikvideo sorgt nicht unbedingt für mehr Klarheit. Sogar eher das Gegenteil ist der Fall.
Hinter Yorkes Idee, die Veröffentlichung einfach selbst in die Hand zu nehmen, steckt natürlich auch Kalkül. Er ignoriert damit die Plattenfirma, quasi jede Entscheidung einer Person über ihm, die an dem Album nicht mitgearbeitet hat, aber daran verdienen würde. Daran ändert auch der geplante Vinyl-Release nichts. Die volle Kontrolle bleibt in seinen Händen und das Gerede ist groß, wie damals, als Radiohead "In rainbows" nach dem Pay-what-you-want-Prinzip veröffentlichten. Der Unterschied: Das eigentlich bemerkenswerte Ereignis rund um "Tomorrow's modern boxes" ist die Art und Weise seiner Veröffentlichung und die Tatsache, dass Yorke hier auf jegliche gängige Konventionen pfeift, sich sogar dagegen auflehnt, sie umgeht und hinterrücks lahmlegt – nicht aber das Album selbst.
Das ist natürlich mitnichten schlecht, nur eben stellenweise etwas zäh und eigensinnig. So wie sein Schöpfer selbst eben auch zu sein scheint, der hier innovativer klingen möchte, als es am Ende der Fall wirklich ist. Mehr noch: Yorke will hier nicht gefallen, sondern herausfordern. Anders kann man sich einen Kraftakt wie "There is no ice (for my drink)" nicht erklären, dieses siebenminüte Deep-House-Monster in der zweiten Hälfte, das sich zuerst hypnotisch-wabernd im Gehör einnistet, um sich dann stakkatoartig auszubreiten. Nahtlos geht es über in "Pink section", eine nervös zuckende und kratzende Piano-Ballade, die wohl als Auftakt zum wirklich schönen Schlussakt "Nose grows some" fungieren soll. An keiner Stelle des Albums klingt Yorke wärmer als hier, wenn der Synthie-Pop einen leuchtenden Klangteppich erzeugt, den Yorke selbst vorher noch mühsam hat sezieren lassen.
Das eigentliche Highlight kommt aber viel früher und vor allem unerwartet: Das tieftraurige "Truth ray" teilt "Tomorrow's modern boxes" in der Mitte, die Symbiose aus Electronica, Post-Dubstep und Soul steht Yorke gut, die sich wiederholenden Zeilen "Oh my God" lassen Schreckliches vermuten, lullen aber so verführerisch ein, dass jede Rettung ohnehin zu spät sein wird. Spielt auch keine Rolle: Die Schotten sind eh schon dicht, alle Türen verriegelt, alle Ausgänge weggesprengt. Die Ankündigung, dass Radiohead sich derzeit wieder im Studio befinden, um ihr neuntes Album aufzunehmen – das erste seit dem 2011er "The king of limbs" –, lässt einen angesichts dieses anstrengenden, widerspenstigen, durch und durch nervenaufreibenden Werkes fast ein wenig erschauern. Und doch bleibt da dieses Gefühl, diese Spannung, diese unerschöpfliche Neugier. Ganz ehrlich?
Wir können es kaum erwarten.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The mother lode
- Truth ray
- Nose grows some
Tracklist
- A brain in a bottle
- Guess again!
- Interference
- The mother lode
- Truth ray
- There is no ice (for my drink)
- Pink section
- Nose grows some
Im Forum kommentieren
The MACHINA of God
2020-11-24 12:32:45
Gefällt mir auch deutlich besser als der Vorgänger, zu dem ich nie wirklich Zugang bekommen habe.
Fiep
2020-06-04 16:38:08
Ja, gute formuliert.
Affengitarre
2020-06-04 16:10:51
Sehr schön gesagt.
Zappyesque
2020-06-04 15:52:34
Sehr unterschätzt und ja, kam wohl irgendwie zu ner ungünstigen Zeit raus. Der Mangel an Promotion bzw. der urplötzliche release hat hier wohl gegen das Album funktioniert, als handelte es sich nur um ein Beiwerk. Das Album is von vorne bis hinten genial durchkonzipiert mMn. Gleichzeitig ist es das mechanischste und dadurch teilweise kühlste Werk von ihm (wobei Anima dem nur um wenig nachsteht), dadurch aber auch das soundmäßig homogenste von ihm, mit einem schlüssigen Bogen von Song zu Song. Wie immer viel Liebe zum Detail was die Variabilität von Klängen und perkussiven Einsätzen angeht. "A Brain in the Bottle" und "Guess Again!" haben sehr viel Charm in ihrem poppigen Einschlag, während "The Mother Lode" und "There Is no Ice" Tanzoden sind. "The Mother Load" auf melancholische, freundliche Art und Weise, "There is no ice" von Yorkes bis dato kühlsten Seite. Ich finde das Album stellt ihn auch erstmals als einen Musiker dar, der auch ausschließlich als elektronischer Klangkünstler seinen Ruf verdienen würde. Häufig werden im Zusammenhang mit Yorkes elektronischen Ansätzen Namen umhergeworfen, die das doch viel besser machen würden/gemacht hätten als er, besonders natürlich diverse Warp Künstler wie bspw. Aphex Twin, Autechre, Boards of Canada etc. Ich finde in manchen Kompositionen kann man hier erkennen, dass Thom Yorke diesen Leuten um nichts nachsteht. Tatsächlich legt er nochmal ne Schippe drauf, da er die (mittlerweile sehr organisch produzierten) elektronischen Experimente besser in Songs zu verpacken weiß, Songs die dynamischere Bögen aufweisen und natürlich die melancholische Ader der Hörerschaft in ihren Bann zu ziehen wissen. "Nose Grows Some" ist ja wohl einer der Subtilsten Breakbeats den es da draußen gibt. Man Achte dadrauf wie selten tatsächlich ein rhythmischer Takt wie der Andere ausgelegt wird, es handelt sich nicht bloß um ewig repetitive Loops. Dasselbe kann man auch dem ähnlich monoton-strukturierten "Truth Ray" anmerken. Dann kommen noch die tollen melodischen und harmonischen Ideen dazu. Ich rede natürlich aus persönlicher Überzeugung, doch gibt es hier auch einfach viel zu bewundern.
Fiep
2020-06-04 01:36:20
Das wirds wohl gewesen sein. Nach der AMSP hatte ja keiner ein problem mit Anima.
Noch dazu war die TMB weniger songorientiert, dies haben Atoms for Peace übernommen.
Und die veröffentlichung kam auch aus dem nichts, als alle sich auf "sie gehen ins studio für ein neues album" gefreut haben, und in der fanbase lang von einem TKOL Part 2 spekuliert wurde.
Inklusive release per torrent.
Rückblickend gefällt es mir sogar besser als TKOL... aber da ich es durch diesem thread nochmal ausgegraben habe:
Es klingt bis zu dem zeitpunkt am meistne wie eine laptop platte, von allem woran er beteiligt war. Sowohl The Eraser als auch Amok hatten mehr aufgenommene instrumentierung.
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