Alt-J - This is all yours
Infectious / [PIAS] Cooperative / Rough TradeVÖ: 19.09.2014
Die Dreiecks-Beziehung
Alt-J sind schuldig! Schuldig im Sinne der Anklage. 2012 hast Du Dich ein weiteres Mal in Natalie Portman verliebt, Du hast erneut über die Wirrungen des Lebens gerätselt, an vielem gezweifelt und Dein Herz schon wieder an die Musik gehängt. Du hast Dich verleiten lassen wie ein willenloses Wesen. Man gravierte Dir ein Delta ins Hirn, als Zeichen für Deinen Glauben. Δ, das Symbol der Band Alt-J. Zwei Jahre später ist das Trio aus Leeds wieder auf freiem Fuß und wird nicht müde, seinen Virus freizusetzen. "Escher wanna draw shit", heißt es im Intro des zweiten Albums der Engländer. Die Passage nimmt Bezug auf M. C. Escher und dessen künstlerische Reflexion unmöglicher Figuren. In der Welt von Alt-J gibt es aber eben nur ein wahres Zeichen, nur eine geometrische Form, die zählt. Und in der Tat, sie tun es wieder: Alt-J entführen ihre Anhänger erneut. In die Ferne. Nach Nara. Drei Titel benennt das Trio nach der südjapanischen Stadt, thematisiert Ankunft, Aufenthalt und Abreise. Willkommen auf Flug Nummer 2 der Delta Airlines. Es soll eine Reise werden, nur für Dich, denn Deine Band liebt Dich: "This is all yours", das alles soll einmal Dir gehören.
Die Kirchenglocken läuten, eine Vereinigung steht bevor. "Love is the warmest colour", und sie soll auch Dich erquicken. Wenn Joe Newman wie der Messias nach seiner Wiederkehr die Braut in "Nara" zum Altar geleitet, spricht er es aus: "In my youth the greatest tide washed up my prize: You." Sie wollen Dich, Dich und Deine Seele. Und die kriegen sie. In "Every other freckle" werden Alt-J gar noch bestimmter, jede einzelne Sommersprosse soll es sein, die Du hergibst. "Devour me", bietet das Trio im Gegenzug an: Verschlinge mich, Du kannst mich ganz und gar haben. Im Songverlauf wird offensichtlich, wie die Gruppe sich seit "An awesome wave" weiterentwickelt hat: Ihr Sound erreicht das nächste Level, wird noch ausführlicher, aber zugleich doch klarer und widmet sich auf diese Weise dem größten Kunststück der Band – der Verbindung von Schwere und Leichtigkeit, diesem irren Konstrukt aus Vertracktheit und Konsens. Ein Meisterstück.
Dass die Band ebendiesem mit "Left hand free" kontert, einem relativ groovigen, auf den ersten Blick leicht verdaulichen Rockbrocken, setzt der Verwirrung die Krone auf: Niemand hätte das an dieser Stelle erwartet. Genial. "Gee whiz, girl, you're the one for me / Though your man is bigger than I am", lässt das Trio verlauten. Let's twist and shout, der Balztanz um Deine Gunst ist eröffnet und lässt Dich mit schwingendem Bein dahinschmelzen. Mit dem Kracher endet die flottere Phase der Platte, und Alt-J offenbaren, wie eng Sinn und Sinnlichkeit, Liebe und Leid verbunden sind. "Hunger of the pine" erklärt die Sehnsucht zum Maß aller Dinge. "Une immense espérance a traversée ma peur" – wie die Hoffnung die Angst besiegt. "Realisation grew on me / As quickly as it takes your hand / To warm the cool side of the pillow." Es ist so, dass Du fehlst – Posaunen rufen Dich herbei, Newman versinkt im Schrei nach Liebe und schläft nicht, bis Du an seiner Seite liegst. Dabei schaffen Alt-J eine Soundkulisse, die sich mit erschütternder Düsterkeit anbahnt. Stoisch fiepende Synthies warten auf die einsetzende Instrumentierung mit Saxophon und Pauke, die schließlich im Chorus ihre geballte Power entfaltet. Ein infernales, keltisch-geheimnisvolles Konstrukt, welches sich doch trotz aller Kompliziertheit im Gehörgang festsetzt und ganz nebenbei Miley Cyrus sampelt.
"Pusher" ruft ihn schließlich zur Vernunft: "If you're willing to wait for the love of your life / Please wait by the line." Der Einsame ist nie allein, er ist einer von vielen unter den Wartenden. "Are you a pusher or are you a puller", möchte man wissen: Wer macht den ersten Schritt? Newman entpuppt sich als "Puller", der Dich zu sich ziehen möchte. Doch als er Dich endlich findet, ist er verschüchtert: "We could hold hands for fifteen minutes in the sauna." Hier sind Nähe und Distanz so eng verschlungen, dass erwähntes Spannungsfeld von Liebe und Leid in einem Satz so wunderschön auf den Punkt gebracht wird wie wohl nie zuvor. In "Warm foothills" wird der Sänger erstmals von einer Damenstimme begleitet, und auch das kommt unerwartet wie vollkommen passend im Gesamtzusammenhang. Mit "Bloodflood Pt. II" schließen Alt-J den Zirkel zum Vorgängeralbum, indem sie dem Stück eine Fortsetzung schenken. Der Titel ist dabei wohl der einzige Song, der so auf "An awesome wave" Platz gefunden hätte – aber auch hier geben sich die drei nicht mit dem Geschaffenen zufrieden, sondern stellen den bekannten Klängen Bläser und Effektgerät zur Seite.
Alt-J bleiben in ihrem Sound eigentümlich, machen das Referenzieren im musikalischen Sinne wahnsinnig schwer. Zu neu und innovativ ist, was Joe Newman, Gus Unger-Hamilton und Thom Green in die Waagschale werfen. Wieder sind sie ihrer Zeit voraus. Das zweite Album des Dreiergespanns ist überaus konsistente Weiterentwicklung, die dem Meisterwerk einen Meilenstein hinterherschickt, ohne dabei mit dem bisherigen Konzept zu brechen oder der Krampfstarre zu verfallen. Schon textlich kann man dem Trio nichts vorwerfen, musikalisch aber erst recht nichts: Wie die Gruppe diese wirren Szenen aufzieht und sie aus der instrumental wie gesanglich schier fatalen Mystik immer wieder ins Vereinnahmende verschiebt, ist meisterhaft. Man darf, ja muss hier ein schier unwirkliches Schlagwort droppen: Perfektion. Musik nicht nur für heute, sondern auch für morgen, die Maßstäbe setzt für alles, was noch kommt. Mit "This is all yours" ersetzen Alt-J das Alpha und das Omega durch ihr Delta und besiegeln damit endgültig Deine persönliche Dreiecks-Beziehung. Auf immer und ewig.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Nara
- Every other freckle
- Left hand free
- Hunger of the pine
- Pusher
Tracklist
- Intro
- Arrival in Nara
- Nara
- Every other freckle
- Left hand free
- Garden of England
- Choice kingdom
- Hunger of the pine
- Warm foothills
- The gospel of John Hurt
- Pusher
- Bloodflood Pt. II
- Leaving Nara
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MopedTobias (Marvin)
2021-05-10 22:00:25
"Warm foothills" finde ich wundervoll.
BadaBing
2021-05-10 21:51:58
Da der Thread hier wieder nach oben geploppt ist, habe ich dem Album heute mal wieder einen Durchgang gegeben. Ich würde dabei ziemlich genau bei meiner Einschätzung von 2014 bleiben:
Das Album hat mit „Nara“ einen absoluten Übersong, an den wenn überhaupt das überragende Bloodflood Pt II heranreichen kann. Weitere Highlights wären noch Every other freckle, Gospel of John Hurt, Hunger of the Pine und mit Wohlwollen noch Choice Kingdom.
Danach wird es aber mau, teilweise schon sehr merkwürdig wie die Flöten bei Garden of England oder das Duett bei Warm Foothills. Left Hand Free habe ich wie „früher“ geskippt.
Ich würde in Summe bei meiner damaligen Gesamteinschätzung bleiben: 8/10
The MACHINA of God
2021-05-07 22:00:01
Der Grower des letzten Jahrzehnts. Von "laaame!" zu grandios. Wurde in der Hinsicht nur noch von "Existential Reckoning" von Puscifer getoppt. Kratzt inzwischen hart an der 9/10. Zumindest gerundet würde ich die schon geben.
hideout
2020-11-03 16:30:57
Hehe, ich weiss. War nicht dein WE, erst kein Bier und dann knapp beim Fantasy-Football verloren. ;) Nur Schalke-Fanms haben noch weniger zu lachen momentan.So.
Matjes_taet
2020-11-03 15:43:55
Ich schmetter dir gleich lings eine, wenn du weiter auf meinem Reformationstag-Desaster rumreitest. ;-)
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