Felix Meyer - Menschen des 21. Jahrhunderts
Löwenzahn / EdelVÖ: 04.04.2014
Artischocken statt Pilze
Fünf, sechs Kartoffeln, Schalotten, Knoblauch, Kräuter, ein Stück Butter, Artischockenherzen, fertig. Als wär’s das Leichteste der Welt: Felix Meyer kocht mal eben ein Süppchen, wenn Ängste und Sorgen Überhand nehmen. Wo wir schon bei Aufzählungen sind: Bei besagtem Song "Artischockenherzensuppe" klärt sich auch gut, welche Instrumente aus "Menschen des 21. Jahrhunderts" ein kreativitätsstrotzendes Klangerlebnis werden lassen: Gitarren, Akkordeon, Piano, Schlagzeug, Percussions, Kontrabass, Banjo, Flügelhorn – und ein Besteckkasten, dessen Inhalt hier vor den Kochtopf geschlagen wird. Doch festzulegen, wohin das Zusammenspiel dieser Klangerzeuger musikalisch letztlich führt, ist ungefähr so aussichtsreich wie das Vorhaben, den Stammbaum eines räudigen Straßenköters zu erstellen. Chanson, Jazz, Liedermacher, Blues, Pop, Folk, Country: Keine dieser Schubladen ist grundfalsch. Weshalb jedoch noch längst keine von ihnen wirklich richtig wäre für das, was hier geschieht: Meyer und Konsorten schaffen sich nämlich ihr ganz eigenes Reich.
Und es ist wunderschön.
Die äußerst fröhlich vorgetragene Suppentherapie ist zweifellos notwendig, denn sie folgt unmittelbar auf "Irgendwas immerhin": einem tief berührenden Kleinod, getragen vom traurig gestimmten Banjo und der faszinierend reifen Stimme des Barden. Selten hat ein Lied derart virtuos die diffuse Stimmungslage zwischen Verzweiflung und Hoffnung in Klang und Worte gefasst wie dieses. "Es bleiben mehr Sackgassen als Brücken / Tage mit viel zu vielen Lücken", besingt Meyer den resignierten Verlierer, um kurz darauf gleichsam tröstend wie humorvoll festzustellen: "Und Dein Kopf dreht sich im Kreis / Na, irgendwas macht er immerhin." Humor ist ohnehin ein markantes Merkmal dieser so wunderbar nah an der Wirklichkeit erzählten Geschichten, eingesammelt links und rechts der Gassen auf unendlichen Tingeltouren durch die Fußgängerzonen Europas. Etwa in der deutschen Hauptstadt, wo Meyer ein ehemaliges Restaurant auf "Eins, zwei, drei" wieder auferstehen lässt und wehmütig die Schicksale derer nacherzählt, die es geprägt haben. So bildreich, dass sich der Hörer an einem Tisch inmitten des Geschehens wähnt, wenn es heißt: "Dann gab es Fleisch, Käse und Austern, alles frisch / Wenigstens manchmal, und wenn nicht / Dann wurde Schnaps gereicht zu jedem Fisch." Prost!
Mit Liedern, in denen sie die berechtigte Frage stellen, ob "Zu Hause" wohl im Kopf oder vier Wänden wohnt, in denen selbst die Blätter des immergrünen Gummibaums verwelken oder die Kraft der "Fantasie" in einer eingängigen Hymne mündet, können die heimatlosen Straßenmusiker auch Euphorie entfachen. Die zum Tanzen zwingt, selbst im Bewusstsein, dass das scheiße aussehen wird, weil durch stetige Tempowechsel eine Bewegung, die eben noch angemessen erschien, im nächsten Augenblick völlig fehl am Platze ist. Am stärksten klingt "Menschen des 21. Jahrhunderts" jedoch in den vielen Momenten, in denen Melancholie und Wortkunst sich melodieselig vereinen, wie im Song "Herbsttag": "Zum früh Sterben ist es mittlerweile auch schon zu spät / In jedem Bahnhof ist es wärmer als in meinen Träumen / Hab auf dem Weg schon gesehen, wie es nicht funktionieren wird / Und war mal losgelaufen, um nichts zu versäumen." Durchaus verzeihlich ist da der ausufernde Einsatz gravitätischer Chöre in den Refrains: Wer eine derart sympathische Bodenständigkeit in seinen Texten verankert, der darf mitunter auch ein wenig arg pathetisch klingen. Denn im Ergebnis bleibt Felix Meyers drittes Werk ein höchst authentischer, einzigartiger Blick auf die Welt, wie sie aus der Bordsteinkantenperspektive betrachtet eben so aussieht: sehr sympathetisch, sozusagen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Fantasie
- Irgendwas immerhin
- Herbsttag
- Eins zwei drei
Tracklist
- Bisher noch unerreicht
- Fantasie
- Gummibaumblätter
- Zu Hause
- Postkarten
- Irgendwas immerhin
- Artischockenherzensuppe
- Ein Lied
- Herbsttag
- Eins zwei drei
- Zeichen der Zeit
- Schnee fällt auf Krefeld
Im Forum kommentieren
Obrac
2014-10-05 12:43:30
Das Album ist übrigens ziemlich großartig.
Mainstream
2014-06-03 19:33:06
MMn typische Probleme von deutscher intelligenter Musik: ordentliche, gut gemeinte Texte, aber musikalisch durchschnittlich bis bemüht.
Cosmig Egg
2014-04-17 12:49:43
bei yello damals hatte er mehr bums
BadaBing
2014-04-17 12:20:14
Schönes Album.
Der Refrain bei "Fantasie" kam mir aber sehr bekannt vor. Nachdem mir zunächst nicht einfallen wollte, woher mir die Tonfolge so bekannt vorkam, ist mir nun aber eingefallen, dass die Melodie ziemlich identisch zum Refrain von "Breathing" von Lifehouse ist. Nichtsdestotrotz ein gutes Lied.
F.M.
2014-04-10 17:51:12
Das ist die Platte, die Reinhold Beckmann gerne gemacht hätte.
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Spotify
Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv
Threads im Forum
- Felix Meyer & Project Île - Die im Dunkeln hört man doch (2 Beiträge / Letzter am 31.08.2019 - 20:48 Uhr)
- Felix Meyer & Project Île - Fasst Euch ein Herz (30 Beiträge / Letzter am 10.05.2019 - 10:27 Uhr)
- Felix Meyer - Menschen des 21. Jahrhunderts (31 Beiträge / Letzter am 05.10.2014 - 12:43 Uhr)