Gazpacho - Demon
Kscope / EdelVÖ: 21.03.2014
Der Golem
Wollte man Gazpacho Böses, so könnte man feststellen, dass die Norweger so ziemlich alles auf sich vereinigen, was Prog-Hasser so an Prog hassen. Das beginnt mit Kompositionen, die sich einen Dreck darum scheren, was gerade so gängige Konvention ist. Spieldauer? Egal. Ein Song dauert so lang, wie er dauern muss, um die Geschichte zu erzählen. Songstrukturen wie Strophe und Refrain? Nicht nötig. Ein Song dient der Truppe um die Songschreiber Thomas Andersen und Jan-Henrik Ohme lediglich als Vehikel, um eine mehr oder weniger abgefahrene Geschichte zu transportieren. Insofern muss das letzte Album "March of ghosts" von 2012 für Hörer mit verkürzter Aufmerksamkeitsspanne ein echter Segen gewesen sein, führten die vertonten Kurzgeschichten doch zu ebenso verkürzten und somit kompakteren Songs.
Allerdings: Bei den Marillion-Aficionados, als die Gazpacho nach wie vor erkennbar sind, ist das einzig Berechenbare die Unberechenbarkeit. Und so wartet "Demon" mal eben statt mit den kompakten Häppchen des Vorgängeralbum mit gerade einmal vier Songs in 45 Minuten auf – das sind zwar noch nicht Transatlantic-Dimensionen, aber dennoch beachtliche Brocken, die es zu erforschen gilt. Ein ebensolcher Brocken ist die Story, die nach Aussage der Band authentisch ist: In Prag wird in einem Appartement ein altes Manuskript gefunden, was sich als eine Art Tagebuch entpuppt. Ein Tagebuch eines unbekannten Verfassers, der von einem übernatürlichen Wesen berichtet, welches seit Jahrhunderten die Welt durchstreift, um Böses zu säen.
So düster wie dieses Thema beginnt "I've been walking part 1", zunächst nur durch Klavier und drohende Streicher begleitet, bis dann die Stille durch donnernde Gitarren zerrissen wird. Natürlich erinnern die Norweger, die aus der skandinavischen Sektion des Marillion-Fanclubs "The web" stammen, immer wieder an die Briten, auch weil Ohme seinen Gesang verblüffend ähnlich wie Steve Hogarth phrasiert. Aber man muss lange in der Diskographie der großen Vorbilder suchen, um ein ähnlich prachtvolles Werk voller Spannungsbögen zu finden wie "I've been walking part 1". Welch krasser Unterschied dagegen "The wizard of Altai Mountain". Denn nach den ersten zwei melancholischen Minuten wird es schmissig, und Akkordeon und Geige entführen den Hörer in eine jiddisch-traditionelle Bar. Das klingt zunächst unpassend, reißt aber die immerwährende Düsternis für einen Moment auf.
Vieles an "Demon" erinnert an die verstörenden Welten eines Franz Kafka, nicht zuletzt durch geschickt eingesetzte Grammophon-Samples in "I've been walking part 2", die den Hörer immer wieder direkt in das Prag des frühen 20. Jahrhunderts reisen lassen. Und erst recht gilt das für den völlig abgedrehten, verwirrenden, aber dadurch um so grandioseren akustischen Kosmos, den der phänomenale Abschluss "Death room" über jederzeit faszinierende 18 Minuten aufbaut. Mit Sicherheit ist "Demon" das ambitionierteste Werk von Gazpacho, jederzeit hypnotisierend, jederzeit mitreißend, auch wenn die akustische Reise ohne jegliche Widerhaken in Form von Breaks oder Refrains alles abverlangt. Wenn es einen Hauch von Wermutstropfen gibt, dann die immer noch mitunter arg große stilistische Nähe zu den Vorbildern Marillion. Doch auch so ist "Demon" ein wunderbares Opus, das den Ruf der Norweger als eine der spannendsten Prog-Bands dieser Zeit festigt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- I've been walking part 1
- Death room
Tracklist
- I've been walking part 1
- The wizard of Altai Mountain
- I've been walking part 2
- Death room
Im Forum kommentieren
Der Wanderjunge Fridolin
2020-11-16 15:45:16
Der 8 schließe ich mich an.
Pivo
2020-11-16 12:10:26
Auf meiner Reise durch die bald vollständige Gazpacho-Diskografie bin ich nun bei "Demon" angekommen.
Von leichter Zugänglichkeit kann ich nicht gerade sprechen, aber für Gazpacho-Verhältnisse gibt es zumindest noch schwerere aber auch leichtere Kost. Musikalisch erhaben und düster gibt es so viele Facetten zu entdecken, dass hier dutzende Durchläufe nötig sein werden, um das meiste gehört zu haben. Jeder Song hat geniale Moment in sich, die schon bei den ersten Durchläufen begeistern. Wer Zeit hat sich mit der Musik von Gazpacho auseinanderzusetzten wird nicht enttäuscht werden, sofern man mit ArtRock/Progrock etwas anfangen kann.
Fernab von jeglicher Massenkompatibilität ist auch "Demon" für mich ein Meisterwerk, obwohl ich, aufgrund der höheren "Hitdichte" und schnellerer Zugänglichkeit im Moment noch immer "Molok" und "Missa Atropos" lieber höre.
8/10
RaoulDuke
2014-04-02 13:21:47
Geniales Album - schlägt die beiden Vorgänger "March of Ghosts" und "Missa Atropos" um Längen, ist auch komplexer (in musikalischer Hinsicht wie auch Text) als "TicToc" oder "Night". Spannend, anspruchsvoll, dabei trotzdem gut zu konsumieren (Musik sollte ja auch unterhalten). Ich höre Marillion nach der Fish-Ära nicht mehr intensiv. Sicherlich lassen sich Parallelen erkennen, aber nach meiner Meinung trägt der Sound von Gazpacho bereits eine unverkennbare eigene Handschrift. Und allein der Ideenreichtum bezüglich der Konzeptalben verbietet meines Erachtens einen Vergleich.
Übrigens schöne Rezension - öffnet vielleicht den Horizont und macht neugierig auf die Band und das Album.
Armin
2014-04-01 19:12:35
Frisch rezensiert. Meinungen?
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