Lonski & Classen - All tomorrow is illusion

Osthafen / Broken Silence
VÖ: 14.03.2014
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Bis die Spielhölle zufriert

Aha, wir leben also allein im Hier und Jetzt? Das behaupten zumindest die gebürtigen Rheinländer Lukas Lonski und Felix Classen, die miteinander seit den unseligen Zeiten musizieren, als in Berlin noch ein grobschlächtiges Mauerwerk vorgab, zwischen Gut und Böse trennen zu müssen, je nach Ansicht des Betrachters. Dass die Wirklichkeit eine ganz andere war und auch weiterhin sein wird, kann man natürlich nur verstehen, wenn man diesen ominösen Moment wieder beiseite lässt und in der Historie jenem Zeitgeist nachspürt, der einst die Gräben um und zwischen die Herzen der Leute zog. Gerade weil das dahinter steckende Kirchturmdenken vieler Menschen heute wie damals für Abschottung und Ablehnung der jeweils Außenstehenden sorgt und gesorgt hat. Nur dass diese Grenzen neuerdings gerne unsichtbar bleiben oder sich auf einer völlig anderen Ebene offenbaren. Man denke zum Beispiel an die menschenrechtlich fragwürdigen Bestrebungen der Europäer, mit denen sich diese gegen Wirtschaftsflüchtlinge aus den Nachbarstaaten abzuschotten versuchen.

Da das hier jedoch eine Albumbesprechung und kein philosophischer Essay werden soll, verlassen wir diesen Wissenschaftsbereich lieber ebenso abrupt wie die bei Plattentests.de eigentlich verpönte Erste Person Plural. Zurück ins Jetzt, wo Lonski & Classen längst aus der Hemisphäre der alten mitten hinein in die neue Bundeshauptstadt gezogen sind. Was macht "All tomorrow is illusion" selbst in diesem vielfältig lärmenden Umfeld noch zu einer besonderen Geschichte, der man Zeit und Gehör schenken sollte? Es sind vor allem die dezidierten Einflüsse: Der traurige Gesang eines Win Butler von Arcade Fire vermischt sich klaglos mit Fragmenten der barocken Anmut von Get Well Soon und summiert sich sodann harmonisch zu einem aufgeräumten und klaren Klangbild. Aber eben keinesfalls so, als dass man von einem stumpfen Plagiat sprechen könnte – was sich unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit 2009 bereits auf ihrem ersten, noch stark dem Postrock verpflichteten Album "Climbing on branches" abzeichnete.

Die elf neuen Kompositionen haben sich zu einem organisch-folkigen Wohlklang weiterentwickelt, der zum Glück nicht nur alleine und nachmittags auf Stereoanlagen der mittleren Preisklasse genossen werden sollte. Lonski & Classen bitten vielmehr zum Entdeckungsbesuch in ihre gemütliche Wohnküche, aus der ihr warmherziger Kammerpop entspringt. So liest "Brother soul" dem eingangs erwähnten Zaudern mit der Zukunft schon kurz vor Sonnenaufgang die Leviten und zitiert dazu einen Psalm aus der vielbeachteten "Neon bible", der allerdings nicht näher genannt werden möchte. "The dream" reibt sich darüber noch ungläubig die morgenmüden Augen, während die keck tuckernde Drummaschine aus "Sometimes happy, sometimes sad" schon mal den Kaffee für den Leadsynth kochen geht – schwarz, versteht sich.

In "The living dead" verharrt eine verschwitzte Wüstengitarre alsbald in der Glut der Mittagshitze, während sich das Schlagzeug im Schatten dazu selbst Frischluft zufächert. Wie überhaupt das gesamte Album wunderbar entschleunigt durch den Tag steuert und seinen Reiz vornehmlich aus der Tiefe der Entspannung bezieht. Eine Ruhe, die sicherlich nicht minder dem beteiligten französischen Filmkomponisten Yann Tiersen zu verdanken ist, der bei "I danced again" leise im Echo umherschleichende Gitarrenfiguren geradezu andächtig über eine Brücke aus synthetischen Pulsschlägen in den epischsten aller Sonnenuntergänge schreiten lässt. Wenngleich das tatsächliche Finale mit dem vielschichtig dringlichen "Killer" sowie "Bones" in seiner fast schon an den späten Johnny Cash gemahnenden Behäbigkeit noch einmal aus einem ganz anderen Holz geschnitzt ist.

Manche Menschen leugnen das Hier und Jetzt, sie vermuten stattdessen, erst beim Jüngsten Gericht würde über Wohl und Wehe des Einzelnen entschieden. Lonski & Classen hingegen meinen: Ihr müsst nicht warten, bis die Hölle zufriert. Unsere Automaten haben genügend Glut im Ofen, das langt bis mindestens in 1000 Jahren. Und die schafft Ihr schon. Erst recht mit dieser Platte.

(Andreas Knöß)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • The dream
  • Sometimes happy, sometimes sad
  • I danced again
  • Bones

Tracklist

  1. Brother soul
  2. As close as
  3. Let sun grow
  4. The dream
  5. Sometimes happy, sometimes sad
  6. The living dead
  7. Sore song
  8. I danced again
  9. Marching like soldiers
  10. The killer
  11. Bones
Gesamtspielzeit: 46:05 min

Im Forum kommentieren

Kai

2014-05-12 16:33:45

Klasse Scheibe.
Klingt so gar nicht nach Mönchengladbach oder Berlin.

penetrolius

2014-03-12 10:47:35

Mal so zum reinhören:

https://www.youtube.com/watch?v=rPMECRKjTI0&list=UUUmclrWVLai8qwMaEwMDL4Q

Und ein Interview:
https://www.youtube.com/watch?v=-3Y4XKerZko&list=UUUmclrWVLai8qwMaEwMDL4Q

penetrolius

2014-03-11 10:36:31

Hallo allerseits,

was haltet Ihr von Lonski & Classen. Das ist ein sehr experimentelles Indie-Pop Duo aus Mönchengladbach bzw. Berlin. Die beiden werden seit einigen Jahren von Yann Tiersen gefördert und waren bei seiner Dust Lane Europa-Tour seine Vorband. Am Sonntag haben sie ihr neues Album "All Tomorrow is Illusion" vorgestellt, auf dem auch Yann Tiersen vorkommt. Ich denke es wäre Zeit für eine plattentests.de Rezension. Was meint ihr? Natürlich bin ich parteiisch, da ich ein alter Freund der beiden bin...(Aber hier nicht in deren Auftrag poste!)

Besten

Penetrolius

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