Polvo - Siberia

Merge / Cargo
VÖ: 11.10.2013
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Hat was für sich

Die 1980er Jahre sind bis auf Weiteres endlich wieder abgefrühstückt, die 1970er ohnehin in einen genreverliebten Dauer-Mitläufer verwandelt worden, und was die Briten immer noch und wieder mit ihren 1960ern haben, juckt doch auch immer weniger – natürlich war die Zeit da reif für immer mehr Comebacks aus dem zumindest im Gitarren-Underground amerikanisch geprägtesten Jahrzehnt überhaupt. Chapel Hills Polvo durchliefen in eben jenen 1990er Jahren mit Merge und Touch And Go zwei der einflussreichsten Platten-Labels überhaupt. Und bei ersteren ist die Viererbande um Sänger/Gitarrist Ash Bowie auch heuer alles andere als fehl am Platze. Da man sich hierzulande aber nach wie vor lieber in NDW-Nichtigkeit und ähnlichen Fragezeichen suhlt, schaffte es Polvos 2009er Comeback-Album "In prism" gar nicht erst über den großen Teich. Wie ja auch allgemein der so ungemein ausdifferenzierte US-amerikanische Underground erschreckend folgenlos für den hiesigen Musikmarkt blieb – von einigen hochwillkommenen Ausnahmen natürlich abgesehen.

Polvos Comeback-Nachfolger "Siberia" schiebt sich nun mit Macht an allen Vorbehalten vorbei. Tatsächlich ist es eines der besten Alben in einer an großartigen Scheiben nicht eben armen Band-Diskographie. Wirklich überraschend kommt das dennoch nicht, denn schließlich beeindruckte bereits "In prism" durch eine erneuerte Bandfunktionalität. Polvos Songs wirkten zugänglicher, weniger improvisiert, was allerdings nicht allein an Neuschlagzeuger Brian Quast liegen konnte. Vielmehr hatte man es hier mit einer Band zu tun, die sich weder vor dem eigenen Ego zu beweisen noch von einer dampfenden Masse aus ähnlich lautenden Bands abzusetzen hatte – heutzutage kann man vielmehr froh sein, dass überhaupt noch/wieder jemand so spielt, wie Polvo es auch auf "Siberia" tun, was heißt: im Rhythmus mit ebenso viel Nachdruck wie Komplexität sowie mit mindestens 8 Händen voller Schönheit des Noise.

Was auf "Siberia" noch zusätzlich begeistert, ist die Art und Wiese, wie Polvo ihre eigenen Bandtrademarks mit Songs wie "Blues is loss" und "Light, raking" in einen erweiterten Underground-Kosmos hinein aufschlagen. Bringt ersteres den rhythmisch komplexen Postcore-Grunge der Marke Shiner oder Castor in einem Space-Rock-Arrangement zum Fließen, so lässt zweiteres ein lupenreines J-Mascis-Riff in ein Power-Pop-Keyboard hineindispergieren, nur um sich beides im Songausklang als Soloschleifen um die Ohren zu hauen. "Old maps" hingegen ist eine Psych-Folk-Ballade, die hochkonzentriert bei der Sache bleibt, die Rhythmusgruppe aber dennoch protobedrohlich durch den Background tümmeln lässt. Und "The water wheel" greift das Dinosaur-Jr.-Thema wieder auf, fühlt sich nun allerdings nicht mehr zum Scherzen aufgelegt. Stattdessen platziert sich mit diesem Song ein absolut ergreifender 8-Minüter in der Album-Mitte, dessen Gitarrenspleens zu keiner Sekunde vor Melancholie gefeit sind und die zudem einen der klarsten Refrains transportieren, den Polvo jemals geschrieben haben.

Bei all diesen Songs ebenfalls mit dabei: minimale, doch entscheidende Klangverschiebungen hin zu mehr Tiefe oder einfach mehr Teufelshall auf dem Schlagzeug; Songeinbrüche oder -ausklänge in Math-Rock-Kauderwelsch oder Postrock-Elegie; Bowies Gesang, der seinen Flow prinzipiell eher neben den Notenwerten findet, aber dennoch an den unvorhersehbarsten Stellen in Mitsumm-Momente oder ebenso wunderbare wie wundersam unterdrückte Melodien hineingleitet; sowie ein auf-und abwogendes Meer aus Gitarrenschleifen, die vor keinem einzigen übergroßen Moment zurückschrecken, eben diese aber lieber hinter der nächsten Ecke hervorlugen lassen, statt sie feist als Banner vor sich her zu tragen. Entsprechend muss "Siberia" auch gar nicht erst mit Jahrzehnten beflaggt werden. Stattdessen spricht diese Musik im ehrgeizigsten und versiertesten Sinne nach wie vor für sich selbst – weshalb es sie kaum zu interessieren hat, was alle anderen haben oder zu sein behaupten.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Total immersion
  • Blues is loss
  • Light, raking
  • The water wheel

Tracklist

  1. Total immersion
  2. Blues is loss
  3. Light, raking
  4. Changed
  5. The water wheel
  6. Old maps
  7. Some songs
  8. Anchoress
Gesamtspielzeit: 45:01 min

Im Forum kommentieren

Glufke

2023-04-30 20:08:44

Hab diese Woche mal in die ganz alten Sachen rein gehört. Ich verstehe, warum das ziemlich einzigartig ist und so geschätzt wird, aber mich holt es leider (noch) nicht ab. Das Comeback-Album nehm ich mir aber noch vor.

fakeboy

2023-04-27 09:24:11

Ui, da hast du einiges nachzuholen! Am liebsten mag ich die frühen Alben, allen voran Cor-Crane Secret. Die Band hat eine ganz eigene Spielart des Indie-Rock entwickelt, vor allem die Gitarren sind sehr charakteristisch. Auch das Comeback-Album In Prism ist sehr gelungen.

Glufke

2023-04-27 08:29:46

Höre die Platte 10 Jahre später das erste Mal. Habe da echt ganz schön was verpasst mit dieser Band! Klingt ja irgendwie wie etwas an der Schnittstelle von frühen Modest Mouse, Dinosaur Jr. und Trail of Dead.

Herder

2013-11-09 21:00:52

Ja, "The Water Wheel" ist in der Tat ziemlich grandios! Bei "Anchoress" bleibe ich gerade auch immer wieder hängen: die rythmischen Handclaps und das verstockte Abwürgen zum (Album-) Ende hin gefällt mir sehr gut!

vheissu1

2013-11-09 20:07:30

Favorit bisher: The water wheels

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