Erdmöbel - Kung fu fighting

Jippie! / Rough Trade
VÖ: 27.09.2013
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Save the last kiss

Treten Sie heran, kommen Sie näher. Knutschaction mit Speichelfaktor 100 erwartet Sie. Seien Sie jetzt dabei, zögern Sie nicht, wagen Sie diesen einen Klick zum Video der neuen Erdmöbel-Single. Wie die Spielorgel des einarmigen Leierkastenmanns auf dem Jahrmarkt steigt "Kung fu fighting" ein – Dingeling, dingeling, uffdada, uffdada. Markus Berges marschiert parlierend von der Vergangenheit ins Jetzt, wo ein Abschied der Erinnerung gegenübersteht. "Nur noch eine Runde, nur eine Viertelstunde / Ich bitte Dich, bitte bitte nicht / Fahr Du nicht auch noch ans Meer", animieren Erdmöbel zur letzten Karussellfahrt in trauter Zweisamkeit. "Was in Erinnerung bleibt, ist der Parkplatz, ist 'bumm bumm bumm', ist 'Kung fu fighting' als Klingelton" – Trompete und Orgel spazieren weiter durch die Rummelgassen, das junge Paar im Videoclip knutscht, als gäbe es kein Morgen, als wäre es der letzte gemeinsame Augenblick. "Wo-ho-ho-ho!"

"Kung fu fighting" heißt auch der neue Langspieler des Kölner Vierers, veröffentlicht auf dem eigens gegründeten Label, produziert von Bassist Ekimas. Zuletzt hatten Erdmöbel 2010 mit "Krokus" für Aufruhr im deutschen Popkosmos gesorgt. Die SZ behauptete gar die Rheinländer bildeten die "größte deutsche Band unserer Tage". Was tun, wenn man alles richtig gemacht hat, aber der Ruhestand noch nicht in Sicht ist? "Es war klar, dass ich nichts schreiben durfte, das sich wie 'Krokus' anhört", setzt Berges an. "Wenn etwas klang wie 'typisch Erdmöbel', bedeutete das, dass wir es scheiße fanden", ergänzt Ekimas. Vergleicht man die beiden Erstauskopplungen von "Krokus" und "Kung fu fighting" stellvertretend, erkennt man den Willen zur Veränderung. Während "77ste Liebe" in Tempo und textlicher Ausgestaltung ins Zukünftige drückt und zum Heiratsantrag ansetzt, verliert sich der "Kung fu fighting"-Titelsong in der Erinnerung, gedämpft und nachdenklich. Als konzertierte Bob Dylan ein paar Meter weiter, aber man könne nicht die Motivation aufbringen, sich das anzusehen, weil heute nicht mehr 1962 ist. Es sind andere Ausgangspositionen. Auf der einen Seite die Aussicht auf das Glück in allen Facetten seiner Seltsamkeit, dem gegenübergestellt der Verlust der Fortune und die Besinnung auf das hoffnungsgebende Element vergangener Erfahrungen.

"Atomangriff, Atomangriff", heißt es in "Club der senkrecht Begrabenen". Da hilft nur ein Appell ans Jenseitige: "Fancy diamonds helft mir blinken". Der Song spricht vom Tod, feiert aber mit Dur-Trompete und Stakkato-Gitarre den eigenen Eintritt in diesen exklusiven Verein. Der Chorus wiederholt den Songtitel freudvoll und ohne Unterlass, Handclaps transformieren ihn zum Singalong. "Cardiff" zeichnet mit Kontrabass und Querflöte ein mysteriöses doch anmutiges Bild des Lebens in der walisischen Hauptstadt, bis die Welt der beiden heranwachsenden Protagonisten zerbricht. Der Reverend beschwört die Buben: "Jungs ihr müsst jetzt stark sein." In der Folge reisen die beiden lieber durch die Landen als im "Heimwehheim" zu landen. Und wieder spielt der Abschied eine zentrale Rolle. Dabei verschwimmen Besinnung und Verklärung so sehr, dass Berges schließlich resümiert: "Nicht mal im Traum war das in Cardiff."

Auch "Bewegliche Ferien" schwebt entlang von Kindheitserinnerungen. Wortspiele wie "Duisburg Eisenpimmel" bewegen sich in juvenil-anzüglichen Denkmustern. "Serien / Bewegliche Ferien / Mitten ins Herz" – Herzlichkeit als Folge der Unbefangenheit; wie ein kindliches Leben in den Tag hinein und die Dankbarkeit für solche Zeiten im Späteren. Die Querflöte entledigt sich ihrem trauernden Unterton, Percussion und Gitarre gehen hüpfend voran und bespielen die "Leichtigkeit der Welt". Der Closer "Peng" macht noch mal richtig Rabatz, erzählt von "Oer-Erkenschwick. Schwick! Schwick! Schwick!", vom "Kuckkuck. Kuck! Kuck! Kuck!" und Tabula rasa: "Ich nehm' schon mal ein Schießgewehr / ... / Peng! Peng! Peng!" Ende, aus. Eine gute halbe Stunde reicht Erdmöbel, um ein- und wieder auszusteigen und dabei doch bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Noch mal zurück zum Anfang: Im Video von "77ste Liebe" rauchen zwei halbwüchsige voller Freude einen Grasdübel. Im Clip zu "Kung fu fighting" lecken sich zwei Nackte, der Kindheit Entwachsene gegenseitig die Münder aus. Beide Songs drücken dabei ein Lebensgefühl aus, rütteln an der Pathosdose, fallen jedoch nie hinein oder versinken in ihrer eigenen Lyrik – das ist die große Stärke von Erdmöbel. Auch 2013. Auch auf "Kung fu fighting". Vielleicht sind Erdmöbel ja wirklich eine der größten deutschen Bands unserer Tage.

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Cardiff
  • Bewegliche Ferien
  • Kung fu fighting
  • Club der senkrecht Begrabenen
  • Peng

Tracklist

  1. Blinker
  2. Cardiff
  3. Bewegliche Ferien
  4. Gefäße
  5. Kung fu fighting
  6. Zollstockbad
  7. Club der senkrecht Begrabenen
  8. Vivian Maier
  9. Jetzt
  10. Jede Nacht (Shenzhen Oder Guangzhou)
  11. Peng
Gesamtspielzeit: 32:03 min

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