
The Tangent - Le sacre du travail
InsideOut / UniversalVÖ: 21.06.2013
Die Stärke schwacher Bindungen
Bindungsängste prägen das Bild. Unter den Alleinherrschern der Progrock-Weltordnung gilt: Je austauschbarer das Personal, desto besser. Nicht die schlechteste Devise, denn erstens wird der überlegene Kreativgeist nicht durch lästige Kompromisse gehandicapt, und zweitens wirken die wechselnden Exekutivorgane stilistisch revitalisierend. Vorteile, die auch Andy Tillison zu schätzen weiß, sind unter dessen Federführung The Tangent doch längst von einer Supergroup zum Superprojekt geworden. Für das inzwischen siebte Studioalbum mobilisierte er eine Schar Musikschaffender, die es zusammengerechnet auf stolze 85 progressive Erfahrungsjahre bringt - und das ist "Le sacre du travail" in nahezu jeder Sekunde anzumerken.
Freunde des gepflegten Retro-Progs brauchen also keine Bindungsangst zu haben, denn "Le sacre du travail" (englisch: "The rite of work") stellt sich als ein in jeder Hinsicht genregerechtes Werk heraus. Als sozialkritikübendes Konzeptalbum erzählt es laut Tillison vom Arbeitsleben in den westlichen Industrienationen und wie die dort vorherrschenden Rituale sowohl den Einzelnen von sich selbst als auch die Menschen voneinander entfremden. Im Fokus steht der zum Objekt gewordene Arbeitnehmer, der dem Diktat des modernen Wirtschaftslebens vollkommen ausgeliefert ist. Schwerer Stoff also, und ein Blick auf die Spielzeit der einzelnen Haupttracks ("2nd movement: Morning journey & the arrival", "3rd movement: Afternoon malaise" und "5th movement: Evening TV") lässt durchaus ein vertontes Soziologieseminar befürchten, doch Tillison & Co. gelingt es hervorragend, in all der Länge reichlich Kurzweil unterzubringen. Das gilt besonders für die beiden 20-Minüter "2nd movement: Morning journey & the arrival" und "3rd movement: Afternoon malaise", die auf vorbildliche Weise sämtliche Erwartungen bedienen, die man an ein solches Album richten kann.
Die stets klarsichtige Komposition "2nd movement: Morning journey & the arrival" wird durch die fähige Ausführung bekannter Herrschaften wie Theo Travis und Gavin Harrison (beide u.a. bei Porcupine Tree und Steven Wilson zu hören) zum vielleicht aufregendsten Genreausflug seit Transatlantics "The whirlwind". Nuanciert konstruierte Spannungsmomente gehen nach etwa sieben Minuten in geschmackvoll abgestimmte Jazz-Extravaganzen über. Es blinkt, flirrt und pfeift aus allen Löchern. Dank mit sicherer Hand gezeichneter Gesangslinien kommt der Song jedoch nie aus dem Tritt und ist auch nach mehrfacher Wiederholung deutlich schneller vorbei als es die Spielzeit vermuten lässt.
Mit dem sich nahtlos anschließenden "3rd movement: Afternoon malaise" prägen The Tangent dann einen Inbegriff zukunftsfähigen Retro-Progs. Anders als bei "2nd movement: Morning journey & the arrival" ordnet sich hier der Wuselfaktor bedingungsloser Songdienlichkeit unter. Das Resultat ist ein extrem dynamisches, von Anfang bis Ende mitreißendes und dabei jederzeit geschlossen wirkendes Prachtstück von einem Longtrack. Schade, dass der etwas ideenlose Abschluss-12-Minüter "5th movement: Evening TV" das Niveau der beschriebenen Schwergewichte nicht ganz halten kann, sonst wäre "Le sacre du travail" der Meisterwerk-Status nicht mehr zu nehmen gewesen. Aber auch so legen Andy Tillison und seine Teilzeitangestellten zweifellos ein herausragendes Zeugnis der Fruchtbarkeit kurzlebiger Prog-Rock-Beziehungen ab. Die Nächsten, bitte!
Highlights & Tracklist
Highlights
- 2nd movement: Morning journey & the arrival
- 3rd movement: Afternoon malaise
Tracklist
- 1st movement: Coming up on the hour (Overture)
- 2nd movement: Morning journey & the arrival
- 3rd movement: Afternoon malaise
- 4th movement: A voyage through rush hour
- 5th movement: Evening TV
Referenzen
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