Boards Of Canada - Tomorrow's harvest

Warp / Rough Trade
VÖ: 07.06.2013
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

From dusk till dawn

Im Idealfall schafft es Musik, in einem Stimmungen zu erzeugen. Mal hüpft man fröhlich zu Liturgy oder Deafheaven durch die Wohnung, dann verkrümelt man sich zu The National unter die Bettdecke und starrt vor lauter weingetränkter Langeweile die weiße Zimmerwand an. Auch gut: der innere Soundtrack. Badabing macht es da, und schon läuft man durch den Supermarkt und fühlt sich wie der letzte lebende Mensch während einer Zombie-Apokalypse. Zumindest wenn man "Tomorrow's harvest" hört, das neue Album der beiden schottischen Brüder Michael und Marcus Eoin Sandison.

Unter ihrem Pseudonym Boards Of Canada fabrizieren die Herrschaften seit Mitte der 90er-Jahre Musik, die mit einem Bein immer an der Grenze zum Film-Score wandelt, was wohl auch daran liegt, dass die Sandisons als ausgesprochene Cineasten gelten. Nun also "Tomorrow's harvest". Nach acht Jahren Pause widmen sich die Brüder einem dunkelgleißenden Endzeit-Manifest, das man nun wirklich mal eben zwischen Frühstücksei und Zähneputzen rezipiert. Am ehesten sollte man die Platte ohnehin "from dusk till dawn" hören, was sich aber sowieso von selbst versteht.

In einer Welt, die sich für den Spießbürger doch wahnsinnig schnell dreht, wirkt dieses Album wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt. Boards Of Canada nehmen sich Zeit, bauen ihre Stücke behutsam auf, wobei die Übergänge fließend sind. Folglich ist es wenig sinnvoll, einzelne Tracks herauszuheben. Eine Keyboard-Fläche fließt in die nächste, unheimlich verfremdete Stimmen brummen im Hintergrund, Beats schubsen sich gegenseitig in das Szenario, drängeln sich in dieser oft unheimlichen Atmosphäre aber selten in den Vordergrund. So baut sich eine subtile Spannung auf, die jeder Hörer selbst mit Leben füllen muss. Und dabei ist es dann völlig egal, ob es sich um die besagte Zombie-Apokalypse handelt oder doch nur um den Einfall uns vollkommen überlegener Aliens. Oder um einen atomaren Erstschlag eines verrückten Diktators. Oder um einen unheilvollen Meteoritenschauer. Oder oder oder. Man alpträumt sich jedenfalls in eine andere Welt, und diese ist meist befremdlich, irritierend, bewusstseinserweiternd.

Boards Of Canada gelingt mit diesem Album ein furioses Comeback, und die richtigen Menschen wissen das. Das Duo hebelt Raum und Zeit aus den Angeln, spielt mit den Erwartungen der Hörer und überlässt ihm letztendlich doch selbst die Deutungshoheit. Die Sounds sind meilenweit entfernt von herkömmlicher Gebrauchs-Electronica, "Tomorrow's harvest" versteht sich als kohärentes Album, das nur in gewissen Kontexten Sinn ergibt. Freilich stechen einzelne Momente heraus, so zum Beispiel das hervorragende "Nothing is real", doch letztendlich zählt die Binnenlogik, die extreme Verdichtung und der atmosphärische Wellengang, der den Hörer von Impression zu Impression schaukelt. Keine Platte zum Wohlfühlen. Nehmt die Beine in die Hand.

(Kevin Holtmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Gemini
  • Jacquard causeway
  • Cold Earth
  • Nothing is real

Tracklist

  1. Gemini
  2. Reach for the dead
  3. White cyclosa
  4. Jacquard causeway
  5. Telepath
  6. Cold Earth
  7. Transmisiones ferox
  8. Sick times
  9. Collapse
  10. Palace posy
  11. Split your infinities
  12. Uritual
  13. Nothing is real
  14. Sundown
  15. New seeds
  16. Come to dust
  17. Semena mertvykh
Gesamtspielzeit: 62:07 min

Im Forum kommentieren

Lateralis84skleinerBruder

2025-01-09 20:35:25

boneless

2025-01-09 19:10:59

Als diese Platte 2013 erschien, war ich schon extrem gehyped, immerhin ihr erstes Album seit 8 Jahren. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich mich dann in die ersten Hördurchgänge gestürzt habe. Der erste wurde noch einsortiert unter "Ok, nicht so richtig bei der Sache gewesen, kling ganz schön kompliziert". Hoffnungsvolle weitere Durchgänge folgten und es wollte einfach nicht Klick machen bzw. besser werden. Das war mir damals alles viel zu vertrackt, ja, richtiggehend sperrig. Irgendwie wollte kein Flow entstehen. Einzelne Stücke fand ich großartig, aber das Meiste hat nie gezündet. Seitdem lief sie immer mal wieder, ohne das ich sie auch nur in der Nähe von Campfire Headphase oder gar Music has the right gesehen hätte... ja, irgendwo war ich schon enttäuscht.

Ich finde es recht merkwürdig, dass mir gerade jetzt mal wieder nach Boards of Canada ist.
Die wundervolle EP In A Beautiful Place erwärmte mein Herz wie eh und je. Und dann dachte ich: leg doch mal wieder die Tomorrow's Harvest auf. Manchmal brauchen Alben wohl Zeit, um zu reifen. Manchmal ein paar Wochen oder Monate, im Falle von diesem Album halt schlappe 11 Jahre. Seltsam ist Tomorrow's Harvest immernoch, aber irgendwie verstehe ich jetzt, wohin und was Sandison und Eoin hiermit wollten. Wenn man pessimistisch wäre, könnte man sagen, dass das fast wie ein abschließendes Best Of daherkommt*. Die 17 Stücke wirken wie eine Zusammenfassung aller bisherigen Platten und man kann wohl sagen, dass Boards of Canada noch nie so facettenreich geklungen haben, dabei aber stets ihrem ganz eigenen Klangbild treu geblieben sind. Diese Band ist einfach unkopierbar, kein mir bekannter Act kann diese Stimmung genau so auslösen. Ein Stimmung, die man schwer beschreiben kann. Irgendwas zwischen warmem Sonnenaufgang in der Karabik und verkatertem Heimweh in der Ferne. Überhaupt, Ferne. So ausschweifend heimatlos wie gleichermaßen vertraut klingt das. Und irgendwie packt mich Tomorrow's Harvest da gerade richtig fein am Schlafittchen. Ein derart zappeliges, unruhiges Wohlfühlalbum muss man erstmal hinbekommen. Egal wie fiebrig die Beats auch sind, bei dieser Musik komme ich immer zur Ruhe und ein seltsamer Frieden macht sich in mir breit.

So viel dazu. Musik, die im Grunde gar nicht für den Winter gedacht/gemacht ist und doch gerade so wundervoll seine Wirkung entfaltet. Nicht, weil sie einem den Sommer ins Zimmer holt, sondern weil sie einen so schön zudeckt. Hach.

*ob man je ein neues Album zu Ohren bekommen wird, steht ja komplett in den Sternen.

@Kenner

2017-06-12 13:15:13

Falscher Thread, hier geht's nicht um Arcade Fire

Alf

2017-06-12 12:24:44

Besten Dank Buddy, für die Punkte!

Kenner

2017-06-12 11:58:20

Das Wahnsinnige ist ja, das Album wächst noch immer und wirft immer größere Schatten auf alles musikalisch bisher Dagewesene. Man steht nur noch mit offenem Mund vor diesem Meisterwerk und kann gar nicht fassen, dass es wirklich von Menschenhand geschaffen worden sein soll. Die schiere Genialität seiner Schöpfer lässt einen demütig auf die Knie fallen und Lobpreisungen auf die wichtigste, größte, innovativste, sympathischste und - nochmal - WICHTIGSTE - Band dieses Planeten anstimmen, die wie immer alles richtig gemacht hat. Wenn ich könnte, würde ich alf Punkte vergeben.

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