
Lubomyr Melnyk - Corollaries
Erased Tapes / IndigoVÖ: 12.04.2013
Das Klavierleben
Quer durch das Land fehlen Fachkräfte. Viele junge Leute haben es nicht drauf, sagen die Unternehmer und holen teils bereits Pensionäre wieder in den Betrieb zurück, um weiterhin über Expertise zu verfügen. Da trifft es sich gut, dass Plattentests.de nun problemlos einen famosen Pianisten vermitteln kann. Vielleicht nicht gerade die prototypische Fachkraft, aber mehr als talentiert und mit 64 Jahren im konkurrenzfähigen Alter. Der Ukrainer Lubomyr Melnyk ist begnadeter Klavierspieler, als solcher seit Jahrzehnten aktiv und nun endlich auf dem Breitbildschirm der Musik. "Wo wart Ihr, als ich 30 war", soll Melnyk gesagt haben, als das liebenswerte Label Erased Tapes dem Künstler anbot, dort zu veröffentlichen. Um die Antwort gleich mitzuliefern: Label-Gründer Robert Raths war nicht einmal auf der Welt.
Mit "Corollaries" setzt Melnyk einen neuen Standard in der Neo-Klassik-Ambient-Szene, fußend auf seiner Kernkompetenz, dem Klavierspiel. Spielen trifft es aber noch nicht mal ansatzweise: Melnyk ist Klavierleben. Einen Namen machte sich der Ukrainer als Wegbereiter der "Continuous Music". Eben diese ist schwer zu vermitteln und kaum greifbar. Im Kern aber meint sie wohl Pianotöne im Fluss, mit der schier unmöglichen Vitalisierung von Obertönen, komplexen Notenstrukturen, geleitet von wieselflinken Händen. 19 Töne pro Sekunde kann Melnyk verbrieft spielen. Pro Sekunde, pro Hand, gleichzeitig. Und was das bedeuten kann, zeigt sich unter anderem im 20-minütigen Opener. Der einzige Song mit Text, geschrieben und vorgetragen vom am kompletten Album beteiligten Peter Broderick, lässt nach sechs Minuten das erste Morgenlicht auf der Nasenspitze tanzen und dann den Wind durch Gräser jagen.
Obwohl Melnyk erstmals mit anderen Künstlern gemeinsam ein Werk erschuf, darunter neben Broderick auch Nils Frahm, steckt in "The six day moment" immer noch der klassische Komponist. Die vier anderen Tracks aber sind Neuland für den bärtigen Mann: ultraminimal-knarzende Schraffierungen, dazu folgen Brodericks selektives Violinenspiel, das sich im romantisch-verklärten "Le miroir d'amour" gar gleichberechtigt zeigt, und auch die expansive, feedbackende Gitarre im übersprudelnden "Nightrail from the sun" blindlings und ehrfürchtig in Melnyks philantrophische Welt. Völliges Eintauchen für volle Schönheit im Minimalismus. Und so bleiben am Ende nur zwei Fragen: Was schafft Melnyk noch, wenn wirklich mit 66 Jahren das Leben erst anfängt? Und wer mag jetzt noch von sich behaupten, gut Klavier spielen zu können?
Highlights & Tracklist
Highlights
- Pockets of light
- Nightrail from the sun
Tracklist
- Pockets of light
- The six day moment
- A warmer place
- Nightrail from the sun
- Le miroir d'amour
Referenzen
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