Youth Lagoon - Wondrous bughouse

Fat Possum / PIAS / Rough Trade
VÖ: 15.03.2013
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Phantom-Ass

Marcia Blaessle hat sich als Künstlerin keinen Namen gemacht. Viel mehr war sie eine abhängige Teenagerin, die ihre Drogensucht in ein Westberliner Sanatorium der 70er Jahre führte. Trevor Powers alias Youth Lagoon stieß bei Recherchen zu psychedelischer Kunst auf eines ihrer Bilder und erkor es zum Cover-Motiv seines zweiten Albums. Genie und Wahnsinn liegen eben dicht beieinander, und die Definition von Verrücktheit funktioniert auch nur in Abgrenzung zu gesellschaftlicher Normalität. Auch der 23-Jährige bekennt sich zu einer Art rastloser Stimmen in seinem Kopf, ist von diesen aber nicht geplagt, sondern verarbeitet sie in eine fantastische Platte über Transzendenz und Sterblichkeit, die sich in ständiger Bewegung und intensiver Unruhe befindet. Ob Marcia Blaessle noch lebt und von ihrem späten Ruhm erfahren wird, konnte er nicht in Erfahrung bringen. Aber damit bleibt sie nicht das einzige Phantom dieses Albums.

Das kaleidoskopische Instrumental "Trough mind and back" schwört den Zuhörer ein und Gedankenströme herbei. Es mündet in "Mute", dem ersten großen Highlight auf "Wondrous bughouse". Von Beginn an bemerkt man die Präsenz der Drum- und Percussionabteilung, die auf "The year of hibernation" nur ein Schattendasein fristete. Die Zusammenarbeit mit Produzent Ben H. Allen, der unter anderem für die letzten Platten von Deerhunter und Animal Collective verantwortlich zeichnete, führt gerade auf diesem Gebiet zu einer neuen, sehr lebendigen Kräftigkeit. "Mute" reißt einen bedenkenlos in windige Schluchten, die es bisher höchstens auf dem Cover des Debüts gab. Powers' Stimme tönt dabei als Echo durch fanfarenhafte Synthie-Muster. Im anschließenden "Attic doctor" fragt man sich, ob der schmale Lockenkopf aus Idaho nicht vielmehr ein garstiges Monster ist, das mit seinen spitzen Fingernägeln nach Blut dürstend über bleiche Hälse streicht: "The doctor conceals her grin / To tell us you couldn't have babies." Das Ganze wird unterlegt mit einem perfiden und hypnotischen Walzer-Takt, der einem Geister-Zirkus entstammen könnte. Auch andere Songs sind im 3/4-Takt gesetzt, was den Stücken zum einen das Nostalgische und Anachronistische des Vorgängers verschafft, nun zudem aber auch noch ein Spannungsfeld zu den ansonsten beklemmend experimentellen und zuweilen mit Effekten kunstvoll überladenen Passagen kreiert.

In "Bath" scheinen kurz ein paar Takte des Vorgänger-Albums vertraut hindurch. Dabei ist gerade dieser Song so düster und persönlich, dass er für Powers live nicht aufführbar ist. Er erzählt von einem Spaziergang an einem zugefrorenen Fluss und jenen Gedanken, in denen ihn nur die undurchdringliche Eisdecke vom Bad im eiskalten Wasser trennte. Powers resümiert eine depressive Phase seines noch jungen Lebens. Der "Pelican man" erinnert nicht nur aufgrund des Wassertieres in seinen verwaschenen Gesängen an die späten Beatles inklusive Lennons "I am the walrus" - kommentiert diesen Vergleich aber nur mit einem druckvollen Keyboard-Pattern, bevor das großartige "Dropla" mantraartig "You'll never die" vorbetet und in den Fokus des Albums rückt. Im fast sieben Minuten langen "Raspberry cane" jagt Powers dann noch einmal einen Schauer über jeden Rücken, wenn er zwischen dumpfen Synthies mit hoher Stimme verkündet: "I'm polluted by my blood / So help me cut it out / And rinse it down the drain / Everybody cares."

Es sind wohl keine gleichförmigen Bahnen, auf denen sich Powers' Gedanken bewegen, eher vielgestaltige, amöboide. Vielleicht sind diese auch deshalb immer schneller gekreist, bis sie schlussendlich das behagliche Beschweren durch die Anziehungskraft überwinden konnten und die Bahnen in größere, widerspenstige Sphären verlassen haben. So ist "Wondrous bughouse" deutlich komplexer als sein Vorgänger, verliert sich aber nicht zwischen den dunklen, metaphysischen Ebenen der menschlichen Psyche. Ganz im Gegensatz dazu haucht die, nun nicht mehr eigenständige, Produktionsarbeit dem Projekt Youth Lagoon neues Leben ein. Und so wird es kein Trugbild sein, wenn sich das Album am Jahresende in einigen Bestenlisten wiederfindet.

(Andreas Menzel)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Mute
  • Attic doctor
  • Dropla
  • Raspberry cane

Tracklist

  1. Trough mind and back
  2. Mute
  3. Attic doctor
  4. The bath
  5. Pelican man
  6. Dropla
  7. Sleep paralysis
  8. Third dystopia
  9. Raspberry cane
  10. Daisyphobia
Gesamtspielzeit: 50:46 min

Im Forum kommentieren

saihttam

2014-11-02 12:39:29

Muss mir das auch mal wieder geben. Eine der faszinierendsten, aber auch kompliziertesten Platten der letzten Jahre!

Herder

2014-11-01 20:15:42

Absolut! Eine der wenigen wirklich aktuellen Platten in meiner "100 Alben für die Ewigkeit"-Liste.

Gordon Fraser

2014-11-01 20:10:25

Gut gealtert, die Platte. Macht richtig Spaß, v.a. das hypnotische Ende (die letzten drei Songs).

AndreasM

2014-01-20 19:01:04

danke!
und ich kann mich in allem anschließen.
bei 'wondrous bughouse' funktioniert aber natürlich auch viel über das kollektiv an songs.

Herder

2014-01-20 18:38:48

Hier gibt es einen neuen Youth Lagoon-Song - "Worms" - zu hören:

https://soundcloud.com/fatpossum/worms/

Kommt für mich (noch) nicht ganz an die Lieder von "Wondrous Bughouse" heran, das war aber immerhin auch eines meiner Alben des Jahres. Trotzdem natürlich hörenswert, v.a. die zweite Hälfte des Songs!

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