
Tori Amos - Scarlet's walk
Epic / SonyVÖ: 28.10.2002
Lost in America
"How long would it take me to walk across the United States all alone?" wollten Jimmy Eat World vor einiger Zeit wissen. Tori Amos weiß es: ziemlich genau 74 musikgewordene Minuten. Nach "To Venus and back", ihrem Elektronik-Ausflug ins All, und dem Cover-Themenalbum "Strange little girls" hatten sich nicht umsonst alle gefragt, was als nächstes kommen könnte: ein Konzept-Album über Menstruationsbeschwerden? Eine 100-CD-Box, die das Suchen und Gesuchtwerden des Menschen thematisiert, indem nur eine der 100 Hüllen mit einer CD bestückt ist? Oder doch ein minimalistisches Album mit durchsichtigem Cover und beigelegten bunten Lippenstiften zum Selbstausmalen?
Die tatsächliche Antwort ist so überraschend wie spannend: Tori Amos begibt sich als Titelfigur Scarlet (eine Referenz auf Nathaniel Hawthornes "Der scharlachrote Buchstabe") 18 Songs lang auf den Weg von Küste zu Küste, einmal quer durch Amerika. Und wie sie verlautbaren läßt, steckt in allen von uns ein Stück Scarlet: "Scarlet bin manchmal ich, manchmal ist sie jedoch nur ein kleiner Tropfen und dann wieder der ganze Ozean. Scarlet ist nur eine Einzelne von uns, sie stellt aber gleichermaßen uns alle dar."
Tori Amos spielt die Frau von der Straße, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit wehendem Kleid und Stöckelschuhen wandelt sie einsam vom wilden Westen in den rauhen Osten, mit Zwischenstationen in unzähligen Städten, Betten, Gläsern und fremden Gewissen. Ständige Begleiter sind lediglich ihr Bösendorfer Piano, ab und an von ein paar Gitarren, aber nie tonnenschweres elektronisches Gepäck. Ihre Stimme klingt staubig wie die nicht enden wollende Straße vor ihren Füßen und schwülstig wie die drückende Luft, in der erwartungsvoll die Geier kreisen.
Sie wollen nicht ihren Körper, sie wollen ihre Seele. Die fletschenden Zähne gehören Amerika, und irgendwo dazwischen kauert Tori Amos alias Scarlet - hilflos, schutzlos, orientierungslos - und weiß nicht, wohin. Ihre Spuren auf der Karte schlängeln sich, oft in die falsche oder in gar keine Richtung, manchmal ohne erkennbares Ziel. "I start humming 'When doves cry' / Can someone help me? / I think that I'm lost here / Lost in a place called America".
An bestimmten Stellen kommen die Fußstapfen zum Stillstand. Aufnahmen der Einsamkeit verwandeln sich in Momentaufnahmen der Zweisamkeit. In "A sorta fairytale" fährt Scarlet mit einem Mann an ihrer Seite die Westküste hoch und bleibt am Ende doch alleine zurück. In "Strange" und "Carbon" sucht sie in den Spuren der amerikanischen Ureinwohner auch ihre eigenen indianischen Wurzeln und findet sich plötzlich im Hier und Heute wieder, wenn "I can't see New York" den 11. September 2001 empfindet. Als "Mrs. Jesus" schläft sie in den Armen eines Mannes ein und erwacht in "empty arms". "If you're a thought, you will want me to think you" denkt sie in "Scarlet's walk" und erfüllt diesen Wunsch unzählige Male.
Doch wer zu viel überlegt, gedacht und gesehen hat, hört irgendwann auf, die Augen zu öffnen. Die Farben verwaschen, die Eindrücke verblassen, und irgendwann fühlt man nur noch den eigenen Körper und die schwebenden Klänge, tief im eigenen Kopf. "Sights and sounds / Pull me back down / Another year / I was here, I was here" verzweifelt unsere Scarlet schließlich in "Gold dust" und kommt irgendwo in Maryland zur wohlverdienten Ruhe. Der Sand klebt an den Sohlen, der Goldstaub in den Augen. Und die Erinnerungen irgendwo, verloren in Amerika.
Highlights & Tracklist
Highlights
- A sorta fairytale
- Mrs. Jesus
- Taxi ride
- Gold dust
Tracklist
- Amber waves
- A sorta fairytale
- Wednesday
- Strange
- Carbon
- Crazy
- Wampum prayer
- Don't make me come to Vegas
- Sweet Sangria
- Your cloud
- Pancake
- I can't see New York
- Mrs. Jesus
- Taxi ride
- Another girl's paradise
- Scarlet's walk
- Virginia
- Gold dust
Referenzen
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