Buch: Sayaka Murata "Die Ladenhüterin" (Buchclub-Wahl #1)

Jennifer

29.11.2020 - 00:09

Und hier ist auch schon der Thread für unsere erste Wahl des Plattentests.de-Buchclubs.

Hier noch mal zusammengefasst:

- Offizieller Startschuss für die erste Runde ist der 01. Dezember. Wer früher anfangen möchte oder später, darf das freilich gern tun.
- Die große Diskussionsrunde findet ab dem 31. Dezember in diesem Thread statt. Bitte haltet Euch vorher mit Meinungen und Wertungen zurück – es soll ausdrücklich kein Druck auf Langsam-Leser oder Spät-Anfänger ausgeübt werden, noch soll sich irgendjemand aus dem Thread ausgeschlossen fühlen, weil er nicht gespoilert werden möchte.
- Falls sich inhaltliche Fragen oder Ähnliches ergeben sollten, verseht diese also bitte mit einer deutlichen (!) Spoiler-Warnung.

kingsuede

29.11.2020 - 09:43

Wird jetzt besorgt. Viel Spaß allen!

Enrico Palazzo

29.11.2020 - 12:06

Sehr schön, ich freu mich! :)

Watchful_Eye

29.11.2020 - 12:07

Ich werde es wie im Deutschunterricht machen und nur die Zusammenfassung auf Wikipedia lesen.

Ne Spaß, vielleicht mach ich mit, mal sehen.

AVMsterdam

29.11.2020 - 12:13

Das ausgesuchte Buch begeistert mich jetzt nicht unbedingt, aber ich bin froh, dass der Buchclub wiederbelebt wird. Man will sich schließlich nicht nur musikalisch, sondern auch literarisch weiterbilden.

Enrico Palazzo

29.11.2020 - 12:46

Ach, einfach offen rangehen. Und wenns dann kacke ist, kann man wenigstens gut abhaten, ist doch auch was :)

Mr Oh so

30.11.2020 - 00:05

Ist bestellt. Sehr gute Wahl. Bin sehr gespannt auf das Buch.

Enrico Palazzo

01.12.2020 - 15:44

So, ich habe das Buch gerade aus dem Buchladen an der Ecke abgeholt. Bin sehr gespannt :) Aber ich fange wohl erst am 20.12. an.

Jennifer

01.12.2020 - 15:50

Prima. :) Anfangen darf man natürlich, wann immer es zeitlich passt.

Und was ich auch noch erwähnen wollte: Falls jemand gern mitmachen möchte beim Buchclub, sich die Lektüre aber gerade nicht leisten kann und zufällig in Frankfurt oder Umgebung wohnt: Die englische Ausgabe verleihe ich gern. Daran solls also nicht scheitern. Mail an jennifer@plattentests.de reicht, erfährt hier auch niemand. Versprochen.

Enrico Palazzo

01.12.2020 - 16:00

Gute Idee! Ich wohne in Bremen.

dieDorit

01.12.2020 - 16:39

Frage an Jenny:
Warum hast du denn ein im Original auf japanisch geschriebenes Buch in der englischen Übersetzung?

Jennifer

01.12.2020 - 16:44

Frage an Jenny:
Warum hast du denn ein im Original auf japanisch geschriebenes Buch in der englischen Übersetzung?


Ich hab mir das damals im Lissabon-Urlaub gekauft (im ältesten Buchladen der Welt!), da gab es das nur so. Muss allerdings auch sagen, dass ich zweisprachig erzogen wurde und ganz gern auf Englisch lese, schon allein, um nicht "aus der Übung" zu kommen. :)

Enrico Palazzo

01.12.2020 - 16:48

Ist es nicht auch im Grunde egal, wenn das Buch eh übersetzt gelesen wird, in welcher übersetzten Sprache man das liest?

Super wäre es natürlich, würde man das im japanischen Original lesen :)

Jennifer

01.12.2020 - 16:50

Super wäre es natürlich, würde man das im japanischen Original lesen :)

Dafür gäbe es auch Fleißpunkte im Buchclub. :)

dieDorit

01.12.2020 - 16:59

Japanisch lernen steht schon länger auf meiner Wunschliste, aber ich befürchte das wird in diesem Leben nichts mehr.

Ich fragte nur, da es ja hätte sein können, dass du irgendwo erfahren hast, dass die englische Übersetzung besser sei als die deutsche. Das wäre dann ein Grund für mich gewesen auch die englische Übersetzung zu lesen.

Enrico Palazzo

01.12.2020 - 17:05

Ah! Good point :)

The MACHINA of God

01.12.2020 - 17:07

Ist es nicht auch im Grunde egal, wenn das Buch eh übersetzt gelesen wird, in welcher übersetzten Sprache man das liest?

Kommt natürlich auf die Übersetzung an. Und manche Sprachen sind sich näher als andere. Allerdings ist Japanisch so weit weg von Deutsch SOWIE Englisch, dass es hier wohl echt egal ist. :D

kingsuede

01.12.2020 - 17:11

Ich habe die deutsche Version bestellt.

Enrico Palazzo

01.12.2020 - 17:30

@Machina: Welche Übersetzung aus einer anderen Sprache würdest du denn aufgrund der Sprachnähe eher auf Englisch als auf Deutsch lesen? Spontan fällt mir keine ein, bei der das per se nötig wäre. *nachdenkt*

Jennifer

01.12.2020 - 17:33

Ich fragte nur, da es ja hätte sein können, dass du irgendwo erfahren hast, dass die englische Übersetzung besser sei als die deutsche. Das wäre dann ein Grund für mich gewesen auch die englische Übersetzung zu lesen.

Zur deutschen Version kann ich leider nix sagen. Aber Kevin hat das Buch ja auch schon gelesen, vielleicht kann er zumindest was zur "sprachlichen Qualität" sagen.

The MACHINA of God

01.12.2020 - 17:36

@Enrico: Russisch. Irgendwie ist mir da Englisch zu weich, da braucht es hartes Deutsch. :)

dreamweb

01.12.2020 - 17:57

Habe mir das Buch heute aus der Uni-Bibliothek geholt :) Werde voraussichtlich nächste Woche damit beginnen. Auf dieses Buch wär' ich wohl von alleine nie drauf gestossen, von daher hat sich der Buchclub für mich schon gelohnt.

Affengitarre

01.12.2020 - 18:16

Also die deutsche Übersetzung ist (zumindest in der Ausgabe die ich habe) von Ursula Gräfe, die sich ja hierzulande um die Übersetzung des Großteils der Murakamiromane gekümmert hat. Die macht das schon sehr kompetent, auch wenn man merkt, dass sich manche Eigenheiten der japanischen Sprache wohl nicht ganz so gut übertragen lassen.

Kevin

01.12.2020 - 18:34

Ja, liest sich sehr flüssig. Die Übersetzung ist von Ursula Gräfe. Jeder, der schon mal einen Murakami-Roman, der von ihr übersetzt wurde, gelesen hat, weiß, dass sie ihr Handwerk versteht. Mehr kann ich auch nicht sagen.

musie

01.12.2020 - 22:21

Ich habe sämtliche Murakami Bücher gelesen, die meisten mehrfach und in Englisch und Deutsch. Bin ich somit genug qualifiziert für dieses Buch hier? Ich kenns nicht...

Jennifer

01.12.2020 - 22:24

Zum Glück muss sich niemand für den Buchclub "qualifizieren". Mach doch einfach mit!

musie

02.12.2020 - 17:57

mach ich :-)

kingsuede

02.12.2020 - 18:14

Habe nun mein Exemplar.

dieDorit

05.12.2020 - 17:05

Hab mir heute das Buch auch endlich besorgt (unter der Woche kam ich nicht dazu) und werde es nun stilecht mit original japanischen Grüntee (hab ich noch aus Tokio) lesen :-)

Fehlt nur noch die passende japanische Musik dazu...

Affengitarre

05.12.2020 - 17:41



;)

dieDorit

05.12.2020 - 17:47

Das Album wird mit bei rateyourmusic auch als erstes angezeigt, wenn ich bei den Charts nach Artists aus Japan filtere.

kingsuede

05.12.2020 - 17:53

Liest sich gut an.

testplatte

05.12.2020 - 18:18

zum hören:

https://kikagakumoyoggb.bandcamp.com/album/house-in-the-tall-grass

größtenteils schön gechillter psych rock mit dezenten krauteinflüssen, zieht mich aber immer ganz schön rein. könnte nicht parallel dazu lesen - das kann ich aber prinzipiell nicht gut, ich lese aber auch sehr schnell :)

mrnovember

07.12.2020 - 16:37

Gestern auch begonnen!

dieDorit

07.12.2020 - 17:00

Habe nach nur einem Nachmittag bereits ein Drittel des Buches hinter mir (obwohl ich sonst eher langsam lese). Das liest sich wirklich recht gut durch (bisher).

myx

09.12.2020 - 09:18

Klingt schon mal nicht schlecht. Ich starte dann in rund einer Woche, bin gerade noch an was anderem dran, der Autobiografie von Stefan Zweig, "Die Welt von Gestern", gefällt mir, mit kleinen Abstrichen, ausgezeichnet.

Affengitarre

09.12.2020 - 09:42

Uh, "Die Welt von Gestern" ist wirklich ganz hervorragend, sowieso ein sehr interessanter Autor mit einer spannenden sowie auch tragischen Lebensgeschichte.

myx

09.12.2020 - 10:24

@Affengitarre: Schön, dass Stefan Zweig bei dir auch so viel Anklang findet. Bin wirklich sehr angetan von dem Buch bzw. seiner Lebensgeschichte. Könnte zum Ende des Lesejahres hin nochmals eine 10/10 werden.

dieDorit

20.12.2020 - 12:17

Ich habe heute Morgen übrigens pünktlich vor Bekanntgabe der neuen Vorschläge dieses hier zu Ende gelesen.

Ich bin schon gespannt auf die Diskussionen.

Watchful_Eye

20.12.2020 - 14:41

Es gibt "Die Ladenhüterin" übrigens auch ungekürzt als Hörbuch auf Spotify. Dauert gut 3 Stunden.

spotify:album:6Y7RHrvKLawK760SaBcvQS


Jennifer

30.12.2020 - 22:06

Morgen startet hier übrigens die große Diskussionsrunde. Bin gespannt auf Eure Beiträge.

Enrico Palazzo

31.12.2020 - 01:55

6/10

Das, was ich zu dem Buch schreibe, soll bitte immer unter dem Gesichtspunkt verstanden werden, dass mir bisher der Zugriff auf japanische Traditionen und die japanische Gesellschaft fehlt. Aber vielleicht kann ja hier in der Runde jemand dazu berichten?

Ich weiß einfach nicht genau, was ich mit diesem Buch anfangen soll. Liegts an der Übersetzung oder warum habe ich immer das Gefühl, dass die Personen hier ausschließlich wie kleine Kinder miteinander reden und nicht wie erwachsene Menschen? Die Protagonistin Keiko hat offenbar leicht autistische Züge, Shiraha scheint eine gewisse Störung zu haben. Was sie vereint ist die Marginalisierung durch die Gesellschaft, weil sie anders sind, anders funktionieren, als die Gesellschaft von ihnen erwartet.

Was kann ich am Ende mit diesem für mich in emotionaler Hinsicht seltsam sterilen Buch anfangen? Eigentlich nicht viel. Ich konnte keine emotionale Bindung zu einer Person in diesem Buch aufbauen. Sagt mir das Buch etwas über die japanische Gesellschaft? Wahrscheinlich, aber konkret sagen kann ich das nicht, weil ich nicht viel über die japanische Gesellschaft weiß, ich kann nur vermuten. Ich war froh, dass das Buch so wenig Seiten hat, denn es schien mir schon langsam recht redundante Züge anzunehmen zum Ende hin.

Für mich ist Die Ladenhüterin ein nett zu lesendes Buch mit durchweg skurrilen Personen und Dialogen. Aber eben auch nicht mehr.

Kevin

31.12.2020 - 03:29

Ich kopiere jetzt erstmal meine Gedanken aus dem allgemeinen Buch-Thread hier rein:

Ein minimalistischer Roman über eine japanische Frau, die als Aushilfe in einem der für Japan so charakteristischen Konbinis arbeitet und lediglich in dieser Umgebung funktioniert, während ihr alles Zwischenmenschliche schwerfällt. Ein tolle Lektüre für Zwischendurch, die ein Schlaglicht auf die japanische Gesellschaft wirft, dessen Grundgedanken sich aber auch auf andere Kulturen übertragen lassen. 7/10

myx

31.12.2020 - 08:48

Zunächst mal nur kurz und noch ohne Bezugnahme auf das bisher Gesagte: Ich habe das Büchlein trotz einiger Mängel gerne gelesen - schöne, irgendwie beklemmende Atmosphäre auch - und vergebe ebenfalls eine 7/10.

Zur Geschichte: In Japan scheint der Erwartungs- und Konformitätsdruck der Gesellschaft sehr gross zu sein, da hat man es als "Sonderling" wie Keiko schon mal schwer. Umso schöner ist es, dass sie es am Ende schafft, sich von den sozialen Zwängen zu befreien und ihre Bestimmung zu finden. So lese ich, in groben Zügen, diesen Roman.

Bedenkenswert finde ich vor allem die Aussage, dass es sich bei der modernen Gesellschaft nur um ein "Mäntelchen" handle, das die uralten biologischen Zwänge verdecke, wie Shiraha sagt, und die besonders dann wirken, wenn man sich "ganz unten" befindet. Darüber liesse sich, auch mit Blick auf unsere westliche Gesellschaft, trefflich diskutieren.

Autotomate

31.12.2020 - 10:21

Von mir zunächst auch nur eine unangebundene Bestandsaufnahme:

Die Geschichte ist ganz überschaubar: Indem sie das Verhalten ihrer Mitmenschen kopiert und entlang einer hochreglementierten Routine arbeitet, versucht die leicht normwidrige Keiko sich als Immitation eines "Standardteilchens" ins exakt gestochene Puzzle der japanischen Gesellschaft einzufügen. Bis einige altersbedingte Unstimmigkeiten sie darin stören...

Das Buch hat etwas forciertes an sich, das mich an einen zu groß geratenen Schulaufsatz erinnert. Alles wird mit dickem Hammer ausgearbeitet und in den Spot gehalten. Diese seltsam überdeutliche (und irgendwie naive) Art, dem Leser die Lage einzurichten, entfaltet im Laufe des Buches einen gewissen exotischen Charme, der für mich viel von seiner Unterhaltsamkeit ausmacht. Auch wenn ich häufig das Gefühl hatte, hierbei im Fußbad meiner eigenen Klischees und Vorurteile zu stehen.

Im Rückblick wirkt das Buch auf mich wie eine Parabel im Silhouettentheater: Etwas plakativ und befremdlich (aber auch ein bisschen spaßig) in der Darbietung, inhaltlich durchaus anrührend und stellenweise bedenkenswert.

Ich wäre mit Enrico bei ner 6/10.

Enrico Palazzo

31.12.2020 - 10:38

Sehe ich sehr ähnlich, Autotomate

Affengitarre

31.12.2020 - 10:48

Ich fühlte mich gut unterhalten, wie schon erwähnt ein nettes Buch für zwischendurch. Keiko als etwas andere Protagonistin fand ich sympatisch, das Setting im Laden hat mir auch gefallen. Trotz der kurzen Länge hatte ich am Ende nicht das Gefühl, dass die Geschichte zu früh endet, die Ausgangssituation gibt vielleicht auch einfach nicht mehr viel her. Sicher kein perfekter Roman, habs aber gerne gelesen.

Jennifer

31.12.2020 - 11:10

Zunächst mal: Vielen Dank an alle für die rege Beteiligung und das Einhalten der wenigen Spielregeln. Auch für mich war das hier ja der erste Versuch eines Buchclubs und mich freut es sehr, dass das alles so gut funktioniert. :)

Zum Buch selbst: Das hatte ich bereits vor einer Weile gelesen. Aufgrund der überschaubaren Länge hab ich es mir nach den Feiertagen aber noch mal vorgenommen. Mir geht es so wie den meisten hier: Ich fühlte mich gut unterhalten, blieb aber auf gewisse Weise auch distanziert von sämtlichen Charakteren. Wobei ich Keiko mit ihrer etwas anderen Art (die ich wie Enrico Palazzo auch dem autistischen Spektrum, vielleicht Asperger's, zuordnen würde) durchaus sympathisch finde.
Selbst war ich nie in Japan und kenne dementsprechend auch die mal mehr, mal weniger beschriebenen Gepflogenheiten nicht, aber ich fühlte mich sehr in diese Atmosphäre hineingezogen. Was mir total entfallen war und worauf ich beim Zusammensuchen der Inhaltsangaben wieder gestoßen bin: Murata arbeitet(e?) selbst in Teilzeit in einem solchen Supermarkt. Da lag das Setting sicher auf der Hand, obwohl ich es dennoch als spannende Wahl empfinde.

Für mich hatte das Buch die ideale Länge: Als kleiner Einblick in diese schrulligen bis tragischen Leben war es genau richtig und auch im zweiten Durchgang hatte ich nicht das Gefühl, dass diese Erzählung nicht zu Ende gewesen wäre. Punktemäßig wäre ich hier zwischen 6 und 7 mit Tendenz zur besseren Wertung.

Bedenkenswert finde ich vor allem die Aussage, dass es sich bei der modernen Gesellschaft nur um ein "Mäntelchen" handle, das die uralten biologischen Zwänge verdecke, wie Shiraha sagt, und die besonders dann wirken, wenn man sich "ganz unten" befindet. Darüber liesse sich, auch mit Blick auf unsere westliche Gesellschaft, trefflich diskutieren.

Vielleicht habe ich es jetzt wegen des Buchclubs etwas aufmerksamer gelesen als beim ersten Mal, da kamen mir diese Reden von Shiraha nämlich vor allem nur sehr nervig vor mit wenig Inhalt. Aber nun haben sie mich doch auch sehr zum Nachdenken angeregt. Obwohl diese Aussagen natürlich wenig bis gar nicht differenziert sind, steckt schon auch ein Körnchen Wahrheit in ihnen.

Persönlich am schlimmsten (nicht in qualitativer, sondern inhaltlicher Form) fand ich übrigens die Gesprächsrunde zwischen Keiko und ihren ganzen verheirateten Freunden, die sich holzhammermäßig und komplett unsensibel darauf einigen, dass die Frau unbedingt heiraten muss und ob denn nicht irgendjemand von ihnen einen Kerl kennen würde, der diesen schrecklichen Job übernähme. Wer solche "Freunde" hat, braucht keine Feinde mehr.

MopedTobias (Marvin)

31.12.2020 - 11:17

Zu den Dialogen: Ich finde diese überdeutlich-sterile Art sehr passend zu Keiko als Charakter bzw. dem Konbini als roboterhaft-befremdlichen Ort. Ich kann hier eine gelungene Verbindung von Inhalt und Form ausmachen, auch wenn ich freilich wenig bis gar nicht Erfahrung mit japanischer Literatur habe. Vielleicht wirkt die Rede der Figuren für jemanden, der des Japanischen mächtig ist, nicht so befremdlich. Ich möchte mir da nicht anmaßen, abschließend über die Qualität der Sprache oder der Übersetzung zu urteilen.

Der emotionale Zugang ergibt sich für mich allein dadurch schon, dass ich mich als Mensch mit ebenfalls autistischen Zugängen teilweise in Keiko wiederfinden kann. Das ist bei weitem nicht so extrem ausgeprägt bei mir und ich bin (hoffentlich) kein Soziopath, aber Murata schafft wiederholt Momente, in die ich mich sehr gut einfühlen konnte. Dieses natürliche Unverständnis für allen anderen selbstverständlich erscheinende gesellschaftliche Rituale oder Erwartungen, ohne konkret "dagegen" sein zu wollen; der Wunsch, in einen Mechanismus eingefasst zu sein, in dem es für jede Situation das "richtige" Verhalten gibt.

Nun weiß ich auch nicht viel über die japanische Gesellschaft, aber Murata hat generell viel über die Welt an sich zu sagen. Inhaltlich ist dieser kleine Roman äußerst vielschichtig, bzw. auf unterschiedliche Arten lesbar. Ist es eine Kapitalismus-Satire? Keiko ist der überspitzte Idealtyp des im System eingespannten Menschen; sie lebt im wörtlichsten Sinn nur für ihre Arbeit, empfindet dies aber keineswegs als Qual oder Entbehrung, sondern ganz im Gegenteil als die pure Erfüllung. Oder formuliert Murata hier einen Kommentar auf den Transhumanismus? Keiko hört die "Stimme" des Konbini, sie "spürt" seine Bedürfnisse und die der Kunden. Sie verschmilzt mit ihrem Laden zu einem Ökosystem, vielleicht sogar einen eigenen Organismus, der auf äußere Einflüsse wie das Wetter reagiert und ohne den sie kaum mehr lebensfähig ist. Oder plädiert Murata, das ist wohl die sympathischste Lesart, schlicht für Verständnis und Akzeptanz von Menschen wie Keiko? Für Menschen, die ihr ganz persönliches Glück gefunden haben, das genauso seine Berechtigung wie jeder gesellschaftlich geforderte Kinder- oder Partnerschaftswunsch hat?

Spannend finde ich auch die Figurenkonstellation. Keiko und Shiraha scheinen sich in ihrem Außenseitertum auf den ersten Blick ähnlich, doch hat ihr Verhalten komplett gegensätzliche Ursprünge. Während Keiko die Gesellschaft gar nicht bewusst ablehnt, sondern aus ihrem natürlich-autistischen Wesen heraus schlicht kein Verständnis für sie aufbringt, argumentiert Shiraha aus einer kulturanthropologischen Perspektive: Er stemmt sich gegen die gesellschaftliche "Ausbeutung" seines Mannseins und entscheidet sich bewusst für eine Existenz ohne Funktion. Bis zum Ende bleibt fraglich, ob er dies aus tatsächlicher Überzeugung tut, oder ob er sich nur einen theoretisch-argumentativen Apparat als Ausrede für sein Nichtstun erdichtet hat. Wenn Keiko wahrnimmt, wie er (in Entsprechung zu ihr selbst) "auswendig gelernte" Sätze vorträgt, spricht das eher für letztere Variante.

Insgesamt gebe ich die bisher höchste Wertung hier und zwar eine 8/10. Ein unterhaltsam wegzulesendes, gleichzeitig empathisches wie distanziertes, menschliches wie skurriles Buch, das einem durchaus komplexe Lesarten anbietet.

Autotomate

31.12.2020 - 12:36

Den Shiraha empfinde ich als so grotesk karikiert, dass ich mich frage, welche Funktion diese Überzeichnung haben könnte. Ist das einfach nur ein weiterer, aus Versehen zu holzschnittartig geratener Charakter, oder ist es ein kleiner absichtlich so grobgestrickter Dämon, der sich Keiko auf die Schulter setzt, um ihr mit dem großen Hammer zu verdeutlichen, wohin der Wunsch nach Einpassung in die klischeehaften gesellschaftlichen Anforderungen sie führt?

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