Buch: Mohamed Mbougar Sarr - Die geheimste Erinnerung der Menschen (Buchclub-Wahl #26/2)
myx
04.09.2024 - 13:53
In der Stichwahl punktgleich mit "Nahe dem wilden Herzen" von Clarice Lispector zu unserer Buchclub-Lektüre gewählt.
Lesezeitraum: November/Dezember
Start der Diskussion: ab 31. Dezember
myx
04.09.2024 - 14:09
Ich füge gerne die Kurzbeschreibung von bücher.de hinzu, vielleicht finden sich so ja noch weitere Interessierte, die mitlesen und mitdiskutieren möchten:
Mohamed Mbougar Sarr erzählt in diesem funkelnden Roman von der Suche nach einem verschollenen Autor: Als dem jungen Senegalesen Diégane ein verloren geglaubtes Kultbuch in die Hände fällt, folgt er fieberhaft der Spur des rätselhaften Verfassers T. C. Elimane. Dieser wurde in den dreißiger Jahren als »schwarzer Rimbaud« gefeiert, nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal tauchte er jedoch unter. Wer war er? Voll Suchtpotenzial und unnachahmlicher Ironie erzählt Sarr von einer labyrinthischen Reise, die drei Kontinente umspannt. Ein meisterhafter Bildungsroman, eine radikal aktuelle Auseinandersetzung mit dem komplexen Erbe des Kolonialismus und eine soghafte Kriminalgeschichte. Ein Buch, das viel wagt – und triumphiert.
kingsuede
08.09.2024 - 14:07
Mal sehen, ob ich es im Original angehe.
kingsuede
27.10.2024 - 12:09
Puh. Einmal lesen reicht hier fast gar nicht.
myx
27.10.2024 - 13:04
Danke für die "Vorwarnung". Werde voraussichtlich im Dezember dann ausgiebig an dem Roman knabbern.
kingsuede
27.10.2024 - 16:41
Hinweis von mir: Ich lese auf Französisch.
Deaf
24.11.2024 - 12:32
So, gerade gestartet. Ich erwarte auch auf Deutsch eine anspruchsvolle Lektüre. Hier schon mal Musik zur Einstimmung (wird im ersten Teil des Buches erwähnt):
https://www.youtube.com/watch?v=ktE6e3-lLVs
myx
24.11.2024 - 13:26
Schöner Song! Freue mich auf die Lektüre, erwarte ebenfalls ein nahrhaftes Buch.
Selber bin ich gerade noch bei "Die Pest" von Camus einerseits, bei meiner stichprobenartigen Inhaltsanalyse unseres Lispector-Romans andererseits. In der zweiten Dezemberwoche sollte ich dann spätestens mit Sarr starten können.
myx
10.01.2025 - 11:17
Dann will ich mal das Wort ergreifen, zunächst frei aus der Erinnerung heraus, also ohne nochmals im Buch mit meinen Anstreichungen und Notizen geblättert zu haben:
Etwas erschrocken bin ich zu Beginn der Lektüre, weil ich praktisch auf jeder Seite mehrere mir völlig unbekannte Fremdwörter nachschlagen musste. Das hat sich zum Glück dann ziemlich bald gelegt.
Vielleicht hat Sarr diese Fremdwörter als eine Art Gatekeeper an den Beginn seines Romans gesetzt. Mehrere Interpretationen sind dabei möglich: Es kann eine Einladung sein an den Leser, der gerne mit Bildung und neuem Wissen gefüttert werden möchte. Tritt ein, du wirst nicht enttäuscht werden! Oder es könnte umgekehrt eine Warnung an all die Leserinnen und Leser sein, die lediglich einen süffigen Afrika-Roman erwarten. Glaub ja nicht, du kannst dich hier lediglich gut unterhalten! Schliesslich könnte es auch eine ironische Geste in Richtung (französischer) Literaturbetrieb sein, da Kritiker/-innen sich ja gerne mal als intellektuell überlegen inszenieren. Ihr schätzt ausschliesslich geistig hoch stehende Romane? Hier habt ihr eure Gelehrsamkeit!
Überhaupt enthält das Buch insgesamt viel Meta-Literarisches, nicht nur hinsichtlich des Literaturbetriebs. So wirft Sarr etwa immer wieder die spannende Frage auf, ob es rechtens ist, dass ein Buch die sozialen Probleme ausklammert, unter denen die Menschen zu leiden haben. Muss ein Schriftsteller politisch schreiben, muss er/sie sich für die Veränderung der Gesellschaft einsetzen? Ich denke, Sarr würde diese Frage verneinen. Es reicht, ein gutes/wahres/wahrhaftiges Buch zu schreiben. Die Kunst darf ihre eigenen Gesetze haben und ist ein Wert an sich.
Toll auch, wie Sarr den "Afrika-Kitsch" entlarvt, wird bei afrikanischen Büchern doch häufig so etwas wie Exotismus und "natürliche Wildheit" erwartet. Passend dazu auch das wiederkehrende Thema des Plagiats, wirft man dem Autor Elimane doch lieber Kopismus vor, statt sich an seiner umfassenden Belesenheit und dem souveränen künstlerischen Umgang mit ihr zu erfreuen.
Sehr in Erinnerung geblieben ist mir die Tatsache, dass die westliche (französische) Kultur gemäss Sarr einen "Stachel im Fleisch" der afrikanischen, hier speziell senegalesischen Kultur bildet. Der europäische Kolonialismus hat nicht nur die traditionellen Bräuche und Glaubenssysteme unterwandert, er hat viele auch dem eigenen Land entfremdet, wie man im Buch am Beispiel des möglichen Vaters von Elimane sieht, der lieber für ein fremdes Frankreich in den Krieg zieht, als bei seiner Familie in Afrika zu bleiben.
Sarr schildert uns die überlieferte senegalesische Kultur als ein Amalgam oder zumindest ein Nebeneinander von afrikanischer Tradition und Islam. Hier hätte ich gerne inhaltlich mehr darüber erfahren, weshalb sich zwar die islamische Religion, nicht aber das christliche Gedankengut mit der afrikanischen Kultur und der hergebrachten animistischen Kultur verträgt. Hat es allein mit der Tatsache zu tun, dass die Kolonialmacht Frankreich christlich geprägt ist? Oder ist vielleicht eher der wissenschaftliche Rationalismus aus Europa das Problem?
Aufgefallen ist mir jedenfalls, dass das Christentum nicht von Kritik verschont bleibt. Die Szene, wo Jesus vom Kruzifix herabsteigt, dem Leser versichert, er würde dasselbe wie damals auch heute wieder tun (Sarr reibt dem Gottessohn deutlich und nicht ohne Plausibilität unter die Nase, dass es mit der Welt noch immer alles andere als zum Besten bestellt ist), dann zurück zum Kruzifix steigt und sich selber wieder ans Kreuz nagelt, hat schon fast etwas Blasphemisches. Zum Glück leben wir in einer zwar christlich geprägten, aber längst aufklärerisch geläuterten und säkularen Gesellschaft mit garantierter Religions- und Meinungsfreiheit, sodass niemand eine Fatwa zu befürchten hat, wenn er sich am heiligsten Religionssymbol vergreift.
Was kann ich, stichwortartig, noch aus meiner Erinnerung abrufen? Einige wunderbare, zitierwürdige Zeilen waren anzutreffen, die man am liebsten ausschneiden und einrahmen würde; immer wieder ganz wundervolle, poetisch geschriebene Abschnitte; zudem kann Sarr durchaus auch Liebesgeschichte; schliesslich auch immer wieder sehr spannend zu lesende Seiten mit viel Drive, tolle humorvoll-ironische Passagen und auch interessante Wechsel der Erzählformen und -perspektiven.
Müsste ich "Die geheimste Erinnerung der Menschen" auf eine Kernaussage herunterbrechen, so würde ich sagen, dass es Sarr vor allem um eines geht: um eine überzeugende und eindrückliche Liebeserklärung an die Literatur und Schriftstellerei.
Fazit: Ein Roman, den ich sehr gerne und mit Gewinn gelesen habe, der mich lediglich hinsichtlich einiger Fragen (Christentum/Rationalismus/Islam) etwas unterinformiert zurückgelassen hat. Ich gebe dem Buch eine knappe 8/10. Die allerhöchsten Weihen (beginnen bei mir bei 8,5/10) erreicht es damit, v. a. wegen der vermissten Inhalte, nicht ganz.
Nach dem Durchblättern kurz ergänzt:
Folgende Begriffe musste ich mir auf den ersten Seiten bspw. ergoogeln:
Hapaxlegomenon, phaläkische Verse, dehiszente Himmel, Ghul, Sukkubus, peleanische Eruptionen, Clinamen ... ;-)
Wohl die zentralste Aussage im Buch zum Problem der westlichen Kolonisation lautet wie folgt:
"Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischster Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört." (S. 406)
Und auf der gleichen Seite findet sich eine Hauptaufforderung an die afrikanische Literatur:
"Diese Warnung richtete sich an uns, uns afrikanische Schriftsteller. Erfindet eure eigene Tradition, gründet eure eigene Literaturgeschichte, entdeckt eure eigenen Formen, erprobt sie in euren Räumen, macht eure unerschöpfliche Vorstellungskraft fruchtbar, besiedelt ein Land, das eures ist, denn nur dort werdet ihr für euch, aber auch für andere existieren."
MopedTobias (Marvin)
10.01.2025 - 20:59
Mir fehlt leider wieder die Zeit, um groß in die Tiefe zu gehen (danke für die vielen interessanten Punkte, myx), aber ich fand das Buch auf jeden Fall auch sehr beeindruckend. Nicht so radikal wie zuvor Lispector, aber wieder sehr eigenständig und stellenweise so "mächtig", dass es sich selbst wie das wahrhaftige Buch anfühlt, über das geschrieben wird.
Besonders eindrücklich neben vielem anderen fand ich das Schicksal des Verlegers und die "Enthüllung" am Ende, dass Elimane in Südamerika war, um den dadür verantwortlichen Nazi ausfindig zu machen.
myx
11.01.2025 - 13:09
Danke auch für deine Anmerkung, Marvin. Ich habe es mir nicht so bewusst gemacht, aber stimmt, das Buch selber löst quasi ein, was es in Zusammenhang mit dem Werk von Elimane entwickelt. Auch den Erzählstrang in Südamerika hatte ich nicht so stark im Fokus wie du, merci für die Hervorhebung dieses Punktes.
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