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Review:Crass Harry & The New Hedonists - After The Veneer Of Democracy Has Faded

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Registriert seit 06.05.2017

06.05.2017 - 02:11 Uhr
Der Zahl der Beschwerden nach gibt es kaum noch Musik-Alben politischer Couleur. Das stimmt so natürlich nicht, denn im Grunde ist erstmal alles politisch. Und es existieren sicherlich genügend Musiker, deren textliche Aussagen auch offensichtlich Mißstände ankreiden, Charakterschwächen aufdecken, Korruption und Krieg anprangern; nicht, daß es jemals was genutzt hätte. Selten sind allerdings Alben geworden, die auch musikalisch in der radikalen Zone anzusiedeln sind, weil im Laufe der Jahre die Grenzen dahin, was als "radikal" aufzufassen permanent nach außen verschoben wurden - fast bis an die Grenze, was musikalisch technisch gesehen überhaupt möglich ist.

"After The Veneer Of Democracy Has Faded" von Crass Harry & The New Hedonists, das bereits Ende Januar dieses Jahres erschien, ist so ein Album. Die Verweise reichen nicht nur vom Titel ganz offensichtlich an Mark Stewart's Album "As The Veneer Of Democracy Starts To Fade", auch die harten Beats, die Dubs, das permanente Sound-Chaos, die rigorose Elektronik scheinen direkt dort entlehnt worden zu sein, einer Welt, in der Musik noch radikal sein konnte. Aber das ist ungelogen 32 Jahre her. Zeit, wieder dort anzuknüpfen, wohin selbst Mark Stewart in dieser Direktheit nicht wieder zurückkehren konnte oder wollte.

Doch konkret: Zunächst hat man sich 2 1/2 Minuten lang durch einen wirren Beat/Dub/Samples/Effekt-Dschungel zu kämpfen, der nicht einfach nur drückt, sondern immer wieder Löcher läßt, wo man als Zuhörer dann doch etwas zu erkennen glaubt; da kann man sich auch gut reindrücken, falls es zuviel wird. Das Hören mit angemessenen Kopfhörern sei sowieso empfohlen. Das Kernstück des ersten Tracks ist ein konfuser, elektronischer Funk-Effekt-Backtrack, der direkt aus der Adrian-Sherwood-Soundmix-Küche zu kommen erscheint: Nur ist sie inzwischen irgendwie kaputt und unberechenbar geworden, immer wieder geht was verloren, wird wiedergefunden, Gesangsparts fliegen herum, schwere Artillerie greift an, Movie-Clips, flatternde Geräusche aus dem Nichts wehen einem um die Ohren oder klatschen einem auch direkt ins Gesicht. Schließlich mündet alles in einer Arena der Anklage und des Apologetentums. Auf der Anklagebank: Religion, der Islam, Zeugen Jehovas, Politiker, Krankheiten, Fanatismus in einer gewalttätigen Atmosphäre, die am Ende von einer Computerstimme ("Colossus") aufgelöst wird, die nicht nur Respekt und Ehrfurcht erwartet, sondern auch Liebe - zumindest nach angemessener Zeit. Sicherlich gehören diese gut 7 Minuten zum Intensivsten, was die Platte zu bieten hat. Dann geht es relativ konventionell weiter, was heißt konventionell, harte Funk-Beats schlagen durch, aber auch hier gibt es genügend Nebengeräusche, Effekteinschübe, Dinge, auf die man zu achten hat, will man nicht das Gefühl haben, alles geht irgendwie an einem vorbei; zB die durchdrehenden Funk-Gitarren, die generös überkandidelten Breaks. Und auch Track Nummer drei spart mit Berechenbarkeit: Der einzige, der auf einem Dub-Riddim beruht. An allen Ecken und Enden fallen die Einzelteile auseinander, verschwinden im Dub, tauchen wieder auf, liegen plötzlich nackt da, nur damit dann die ganze akustische Gegend kurzzeitig im Nebel verschwindet. Man kann sich nicht sicher sein, ob das komplett durchgeplant ist - danach hört es sich nicht an, sondern, als wenn alle paar Sekunden die Elemente des Mixes neu ausgewürfelt würden. In "Denise" werden wieder die Tackhead-Beats in den Vordergrund gesetzt, ein Muezzin schwirrt herum (auch hier Parallelen zum oben erwähnten Vorlage-Album), jemand erzählt was von Androiden und nuklearem Krieg, das Gelände soll verlassen werden und der Islam ist schon eine komische Religion, die einem vor allem auf die Nerven geht. Punkt. Und in der Tonart geht es im Wesentlichen weiter, wenn auch ab "Barbarians" (wohl das konventionellste Stück hier als noisiger Wave-Funker) ein wenig die Luft auszugehen scheint. Aber das alles ist ja auch bis dahin anstrengend genug.

Ein politisches Album, ja, höchstwahrscheinlich, aber auch doppelbödig und nicht so klar zu verorten, wie man es eigentlich denken sollte: Es sind eher Fragen, die gestellt werden, es wird kaum direkt kritisiert, und eigentlich geht sowieso alles im allgemeinen Getümmel unter. Da hat man keine Zeit, auf Antworten zu warten, die einen sowieso nicht befriedigen. Was bleibt, ist vor allem die Form: Dermaßen dicht und radikal hat lange kein Album geklungen. Eins der wichtigen -oder eines, das wichtig sein oder werden sollte- des Jahres 2017. Die Realität sieht anhand der Millionen anderen mediokren Alben, die inzwischen auf den Markt geschmissen wurden, höchstwahrscheinlich anders aus: Das Album gibt's nur bei Bandcamp oder auf Youtube.

Highlights
After The Veneer Of Democracy Has Faded
Capitalism Deadlock
Denise

Tracklist
01.After The Veneer Of Democracy Has Faded
02.Speak Up With Authority
03.Capitalism Deadlock
04.Denise
05.These Okays
06.Selfies Can't Balance The Number Of Victims
07.Barbarians
08.Dead End Wisdom
09.Cultural Breakout

Gesamtspielzeit: 40:38

9/10

Referenzen

Mark Stewart & The Maffia; Tackhead; The Pop Group; Keith LeBlanc; Adrian Sherwood; Gary Clail; Andy Fairley; Jesse Rae; Cabaret Voltaire; Missing Brazilians; Little Annie; The Crass; The Fall; Lee Perry; Arc Maffick;

Surftipps:
https://chunkrecords.bandcamp.com/album/after-the-veneer-of-democracy-has-faded
https://www.youtube.com/watch?v=DIIXN97J6MY
Spunk
06.05.2017 - 14:19 Uhr
Ist das ein Bewerbungsschreiben?
Abraham Lincoln
09.05.2017 - 12:43 Uhr
Das reicht mal grad für die Bäckerblume
RevCo Inc.
10.05.2017 - 15:40 Uhr
Hab mal reingehört. Zwar nicht ganz so gut wie das Mark Stewart Album, aber den Spirit kann man nicht absprechen. Danke für den Tipp.
RevCo Inc.
17.05.2017 - 21:34 Uhr
Hätte Album der Woche sein müssen bei der schwachen Konkurrenz
RevCo Inc.
31.05.2017 - 21:48 Uhr
erst recht
Elmut Cole
17.06.2017 - 02:35 Uhr
Wtf???
Dzzz
29.06.2017 - 17:40 Uhr
Ich habe den Eindruck, dass die Musik als solche an gesellschaftlicher, emotionaler und sinnstiftender Bedeutung verliert. Auch als Kitt für gewisse Szenen taugt sie nur noch bedingt. Vielmehr läuft sie nur noch im Hintergrund, steht immer zur Verfügung und ist doch nur schmückendes Beiwerk.
RevCo Inc.
05.09.2017 - 16:35 Uhr
@Dzzz: Das liegt daran, daß in den meisten kulturellen Bereichen eine rigoros linke Auffassung die Macht übernommen hat. Und Kritik an anerkannt linken Standpunkten ist nicht mehr erwünscht.

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