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Blumfeld - Verbotene Früchte

User Beitrag
chris
17.04.2006 - 15:18 Uhr
Im aktuellen MusikExpress bekommt die Platte übrigens 5 Sterne. Die ernstzunehmenden Journalisten haben vielleicht doch etwas mehr Durchblick als die Hobby-Verreisser irgendwelcher Promoabzockblogs.
Pat
17.04.2006 - 15:22 Uhr
fünf punkte ist höchstwertung dort, oder? und wie kommt ihr bloß alle schon an das album ran, verdammt?
porcelaina
17.04.2006 - 15:34 Uhr
Es ist vielleicht auch eine Frage des Alters des Kritikers. Ab einem bestimmten Alter sollte man aufhören Musikkritiken zu schreiben.
Mein Vadder würde auch jedem neuen Rolling Stones Album 10 Punkte geben und mein Opa würde Roland Kaiser 10 Punkte geben.
Man sollte ab einem bestimmten Alter vielleicht auch aufhören Musik zu machen.
Rock n Roll war immer eine Jugendbewegung. Irgendwann hat man den Zugang dazu verloren und macht sich nur noch lächerlich.
Das schlimmste ist wenn alte Bands und alte Kritiker sich gegenseitig beweihräuchern in ihren Reflexionen über Apfelbäume und Tiere.
Man sollte beiderseits den Zeitpunkt erkennen, wann es Zeit ist aufzuhören.
dom
17.04.2006 - 15:40 Uhr
Wenn ich ma ne Promo hätte..das wär schön ja..
chris
17.04.2006 - 16:03 Uhr
Was für eine bornierte Scheisse porcelaina mal wieder zusammenschreibt!

Du kannst all den Musikern, denen Du aufgrund ihres Alters das recht oder die fähigkeit musik zu machen aberkennst, ja mal ne Mail schicken. Cohen, Dylan, Costello, Springsteen, Walker, Morisson, Richman, Regener, Morrissey, Liwa, Faithful... wo genau soll denn die Altersgrenze verlaufen?
@chris
17.04.2006 - 16:17 Uhr
Die ALtersgrenze verläuft da, wo man in ner Lederjacke definitiv nicht mehr cool aussieht.
Oder wie ich es letztens in einem Oliver Kahn-Artikel im Spiegel gelesen habe: Wenn nicht mehr Testosteron selbst durch die Adern pulst, sondern nur noch die Erinnerung daran. :)

Natürlich kann man auch danach noch Musik machen. Und auch die du oben genannt hast haben durchaus nochmal ein paar nette Songs jenseits der 30 gemacht. Trotzdem stünden sie heute alle besser da, wenn sie sich mit 27 erschossen hätten. Das gilt natürlich auch für Diestelmeyer.
lars pre
17.04.2006 - 16:25 Uhr
weiß jemand wie lang die neue platte ist? gesamtanzahl der minute. möchte mal etwas vergleichen.......
qwerteq
17.04.2006 - 16:46 Uhr

01
Blumfeld
Schnee
05:55
02
Blumfeld
Der Apfelmann
03:38
03
Blumfeld
Strobohobo
05:59
04
Blumfeld
Heiß die Segel!
02:45
05
Blumfeld
April
03:39
06
Blumfeld
Tiere um uns
05:07
07
Blumfeld
Schmetterlings Gang
05:11
08
Blumfeld
Tics
03:45
09
Blumfeld
Der Fluß
05:56
10
Blumfeld
Kleines Lied
02:27
11
Blumfeld
Atem und Fleisch
05:17
12
Blumfeld
Der sich dachte
08:09
13
Blumfeld
Ich fliege mit Raben
04:51
francis231
17.04.2006 - 21:12 Uhr
Ein richtig langer Track, wie etwa "Jenseits von jedem", "So lebe ich" oder "Der Wind" ist diesmal nicht dabei.
Schade, oft waren dies Singles mit besonders großem Gefühlskino..
Mixtape
17.04.2006 - 22:13 Uhr
Wer sich aus diesem Album etwas tiefgründiges herausliest, sieht in "Über den Wolken" auch ein Lied übers Ozonloch und seine Ursachen.

Vielleicht sollte jemand dem Jochen mal sagen, dass ein Reinhard Mey schon nervig genug ist, nen zweiten brauchen wir nicht.
Patte
17.04.2006 - 22:24 Uhr
@francis:

Doch, "Der sich dachte".

@Mixtape:

Du hast wohl noch nie Reinhard May gehört (ein komplettes Album), oder?
francis231
17.04.2006 - 23:54 Uhr
Ach ja, richtig, diesen Track habe ich ganz übersehen.
"Der sich dachte", das kann doch grammatikalisch gesehen gar nicht richtig sein..Oder irre ich mich da?
Mixtape
18.04.2006 - 07:48 Uhr
@Patte: Doch habe ich. Schon allein von der Stimme ist Mey in einer Reihe mit Distelmeyer, Roger Willemsen und Hannelore Elsner: der gleiche schreckliche Singsang in der Stimme, dieses sanfte, macht mich ganz aggressiv.
porcelaina.
18.04.2006 - 12:48 Uhr
lol Roger Willemsen würde sich wirklich gut machen in der Band. Und Michael Steinbrecher.
Patte
18.04.2006 - 12:59 Uhr
@Mixtape:

Diese Ablehnung sagt aber mehr über dich aus, als du vielleicht zugeben wolltest. ;) Dieses "Sanfte" verstört dich nur, da Willemsen oder Distelmeyer unter der Oberfläche eher "widerborstige" auch mal zum Granteln fähige Typen sind, die man schwer kategorisieren kann. Das schreckt manche vielleicht ab, weil sie damit nicht umgehen können. Man sollte doch trotzdem in der Lage sein, so eine eindimensionale Denke wie sanfte Stimme = netter Kumpel abzulegen, oder? ;)

Okay, eine gewisser Narzißmus ist wohl allen zu eigen. Steinbrecher hingegen ein Idiot, der kann nicht verlieren, immer ein falsches Lächeln auf den Lippen, null Humor, der Typ.
Sick
18.04.2006 - 14:35 Uhr
@porcelaina:

Absoluter Blödsinn. Musik zu lieben, zu entdecken und vielleicht darüber zu schreiben oder zu berichten hat absolut nichts mit dem Alter zu tun.
Bestes Beispiel hierfür war unter anderem John Peel. Was hat der Mann nicht alles entdeckt und bekannt gemacht. Und das mit weit über 30.
Man muß Blumfeld im Allgemeinen und die neue Platte im speziellen nicht mögen, aber bitte nicht so einen Dünnpfiff schreiben.

Hat übrigens jemand das Interview mit Jochen Distelmeyer im neuen ME gelesen? Mir scheint da wird ein bestimmtes Forum erwähnt das eventuell dieses hier sein könnte? Könnte wirklich sein.
Mixtape
18.04.2006 - 15:25 Uhr
@Sick: Nein, das Intro-Forum ist gemeint.
Patte
18.04.2006 - 15:25 Uhr
@Sick:

Nein, es ging um's Intro-Forum. ;-) Hab aber leider nur den kopierten Auszug mit genau dieser Passage lesen können. Muss mir wohl mal das ganze Heft holen.

Kommt jemand nächste Woche nach Berlin zum Konzert?
Mas
18.04.2006 - 15:49 Uhr
Merchandising: http://hoechst-porcelain.com/images/products/table07.jpg
porcelaina
18.04.2006 - 15:56 Uhr
Also die Alterstheorie ist natürlich etwas überspitzt dargestellt, aber sie stimmt im Allgemeinen und liesse sich wohl auch statistisch belegen.
Rock n Roll gehört der Jugend. Das ist ganz klar. Kreativität, Rebellion, Coolness, Sex... alles das spielt sich im allgemeinen zwischen 18 und 30 ab. Natürlich ist es schwer sich das einzugestehen wenn man selbst dieses Alter verlässt. Danach kommen dann Kinder, Apfelbäume, Rosen züchten und so was. Die Frage ist berechtigt ob man da wirklich noch weiter machen sollte mit Rock n ROll.
Aber Blumfeld haben die Antwort ja selbst gegeben, indem sie schon seit Jahren keinen Rock n Roll mehr machen, sondern in den zeitlosen Kosmos der Liedermacher, Bänkelsänger und Chansonniers eingetreten sind um Musik für Sesselfurzer, Sockenfalter und Päärchen zu machen die sich gegenseitig Stofftierchen schenken, obwohl sie schon 38 sind.
Patte
18.04.2006 - 17:51 Uhr
@porcelaina:

Ich glaube, Distelmeyer hat mal sinngemäß gesagt, ihn würde es langweilen, wieder so auf die "Ich-Maschine"-Zeiten zurückzukommen. Verständlich. Abkaufen würde ihm das sowieso niemand mehr. ;)

Und wenn "Strobohobo" nicht "Rock'n'roll" ist, dann weiss ich auch nicht weiter...
Sick
18.04.2006 - 17:52 Uhr
Ah, das Intro-Forum. War schon lange nicht mehr da...

@porcelaina:
Die Jugend interessiert sich heute einen Scheißdreck für "Rock n Roll", eher für Klingeltöne oder wie ich am schnellsten einen BMW bekomme, oder so. ;-)
Aahhh, du hast Probleme mit Liedermachern, Stofftierchen und solchen Dingen? Jetzt verstehe ich, zu alt zu uncool usw.
Werbeklischees, das Dinge wie "Kreativität, Rebellion, Coolness, Sex" in der "Jugend" zwischen 18 und 30 stattfinden? Hihihi...
Dann leb mal schnell und stirb jung. :)
Von deinen Theorien stimmt leider absolut nichts, einzig Blumfeld machen keinen Rock n Roll.
Du liest zuviele Jugendzeitschriften.
"Rock n Roll" ist wohl eher eine Kopfsache, eine Einstellungssache.
Ich glaub mit 14 hab ich auch in solchen Klischees gedacht...
porcelaina
18.04.2006 - 18:21 Uhr
@sick
Ja,ja. Die böse Werbung, die Klingelton-Jugend und mit 66 Jahren fängt das Leben an...
Das sind doch eigentlichen Klischees.

"Die Wahrheit tut oft weh" ist für mich eigentlich der Schlüsselsatz des Albums.

Eigentlich hasse ich mich auch nur selbst, weil ich eigentlich auch gerne ein Kuscheltier hätte und auch bald in das Alter komme, wo man schon mal gerne nen Samstag Abend zu Hause verbringt mit seiner Freundin auf der Couch, mit Jörg Pilawa im Fernsehn und ner Blumfeld CD im Player.
So richtig schön heimelig.


burger king
21.04.2006 - 13:02 Uhr
auch in visions völlig angemessene 11/12 punkten vom chef (carsten schumacher)...
captain kidd
21.04.2006 - 13:22 Uhr
was soll denn rock'n'roll sein? ein lied mit der aufzählung von apfelsorten halte ich für ziemlich rock'n'roll. und sind vielleicht klingeltöne auch rock'n'roll??? weil es "die alten" halt auch nicht verstehen? ich weiß es nicht. ist ein samstagabend zu hause rock'n'roll, wenn jeder idiot jetzt schon schon voll auf koks in london silvester gefeiert hat?
Patte
21.04.2006 - 13:31 Uhr
Ich vergebe auch 17/20, Rezi kommt bald. ;)
porcelaina
21.04.2006 - 14:03 Uhr
Für den Apfelkuchen

Die Band Blumfeld überrascht Fans und Feinde mit Naturlyrik. Auf ihrer neuen Platte »Verbotene Früchte« besingt sie den Mondfisch und das Gnu, den Rhododenron und das Vergissmeinnicht

Von Klaus Walter

Ist er jetzt irre, der Distelmeyer? Wiedergeborener Christ? Oder bloß Vater geworden? Verbotene Früchte heißt biblisch das neue Album seiner Band Blumfeld. 75 Jahre lang war Blumfeld der nur Kafka-Lesern bekannte Titelheld einer Erzählung über einen älteren Junggesellen, seit 1990 verbindet man mit dem Namen die interessanteste Popmusik, die sich der deutschen Sprache bedient. Blumfeld-Alben heißen Ich-Maschine, L’Etat et moi oder Testament der Angst. Und jetzt Verbotene Früchte. Im ersten Lied kreisen Möwen, eine Krähe hackt den Schnee, am Ende lässt Distelmeyer die Raben ziehen. Dazwischen defiliert die komplette Besatzung von Noahs Arche vorüber: Kühe und Schafe, Löwen und Tiger, Qualle, Mondfisch und Gnu dazu. Nicht zu kurz kommt auch die Flora: Rhododendron und Apfelbaum, Goldwolfsmilch und Alpenveilchen, Hyazinthen und Vergissmeinnicht.Rückzug ins Private? Jochen Distelmeyer, Andre Rattay, Lars Precht und Vredeber Albrecht sind Blumfeld (von links)© Dorle Bahlburg BILD

Was also ist los mit Jochen? Viele Leute nehmen es nämlich sehr persönlich, wenn Jochen Distelmeyer eine neue Platte macht. Von Blumfeld erwarten sie mehr als von anderen Bands. Im Vorfeld kursierten Jochen-Gerüchte: Mit Ratzinger habe er sich beschäftigt, religiös sei er geworden. Im Kaffeesatz der Halbwahrheiten wird gelesen, wie einst, wenn Bob Dylan mal wieder die Konfession gewechselt hatte oder vom Motorrad gefallen war. Blumfeld-Platten markieren Wendepunkte im Leben. Millionen von Leuten, die zwischen Hitler-Wahl und Wunder von Bern geboren wurden, sortieren ihr Leben in den sechziger Jahren mit Beatles-Songs: Yesterday – erster Kuss, Norwegian Wood – erster Joint, Happiness Is a Warm Gun – erster Sex. Ein paar Zehntausend besser gebildete Westdeutsche tun das mit Blumfeld. Ihre Platten sind Wegmarken deutscher Biografien seit dem Mauerfall: Mölln & Hoyerswerda, Volontariate & Praktika, Zizek & Derrida, rotgrüner Sieg & rotgrüner Krieg – lässt sich alles erzählen mit Songs wie Superstarfighter, Lass uns nicht von Sex reden, Diktatur der Angepassten. Und jetzt: Kinder kriegen und dem Schnee zugucken? Onkel Distelmeyers Tierleben?

Schon werden die ersten Nachrufe geschrieben, fertige Phrasen gedroschen. »Wo bleibt das Politische?« Weil auf den ersten Blick kein Song wie Diktatur der Angepassten zu entdecken ist, wird der »der Rückzug ins Private« kritisiert. Komischerweise besonders laut aus der feingeistigen Abteilung von Blättern, deren Politik- und Wirtschaftsressorts genau das repräsentieren, was Bands wie Blumfeld seit 15 Jahren bekämpfen. Blumfeld sind nämlich – es muss hier mal in aller uneleganten Klarheit gesagt werden – eine linke Band. Seit Jahren wehren sie sich gegen jede Vereinnahmung für die nationale Sache, gegen die wiederholten Versuche, Blumfeld zum Aushängeschild einer spezifisch deutschen Pop-Coolness zu machen.

Bereits Anfang der Neunziger waren sie dabei, als versprengte Kulturlinke sich zu »Wohlfahrtsausschüssen« zusammentaten. Viele, viele Solokonzerte, Grenzcamps und Wortmeldungen später haben Blumfeld gute Gründe, genervt zu reagieren, wenn ihnen Edelfederchen mangelnde Radikalität vorhalten, weil die Texte nicht explizit genug sind. Explizit wie auf dem vorletzten Album, als ein Gedicht von Rolf-Dieter Brinkmann durch die Distelmeyersche Ich-Aneignungs-Maschine geschleust wurde. Heraus kam Alles macht weiter: »Die Geschichte macht weiter, die herrschende Klasse, der Hass auf die Frauen, die Versklavung der Massen, das Leben nach Vorschrift, die Vernichtung der Vielfalt…«, heißt es da, politisch eindeutig. Aber schon hier, im selben Song, machen auch Flora und Fauna weiter: »Planten un Blomen, Enten und Schwäne, Vögel ziehen übers Meer, und der Wind weht, wohin er will…«

Natur und Politik koexistieren schon länger in Blumfelds Lyrik. Sie sind da im Namen einer höheren Dialektik unterwegs. Zu hoch für die schlichten Antagonismen ihrer Kritiker, denen zu Natur nur Rückzug ins Private einfällt. Distelmeyer verkabelt den hehren Adorno mit dem per Definition antihehren, profanen Pop, beide Lektüren und Erfahrungen sind unhintergehbar im Leben eines bald Vierzigjährigen, der vom linksprotestantischen Millieu einer ostwestfälischen Provinzjugend ebenso geprägt ist wie von der Speed-fiebrigen Dauerdebatte Hamburger Pop- und Politschulen. Derart imprägniert, glotzt man nicht romantisch auf die Natur und vergisst Auschwitz vor lauter Alpenveilchen und Vergissmeinnicht. Vergissmeinnicht und vergiss Auschwitz nicht, das ist der Balance-Akt der Verbotenen Früchte, oder, tiefer gehängt: Blumfeld haben genug politische Claims abgesteckt, um sich verbotenen Früchten zu widmen. Romantik, Naturbetrachtung, Fabulieren, komische Instrumente ausprobieren, ein Spinett, eine Sitar, Ornament muss kein Verbrechen sein. Sogar davon, »ohne Vorbildung an Liedtraditionen von Schubert und Schumann anzudocken«, ist bei Jochen neuerdings die Rede. Den Reichtum der Erfahrungen als Reichtum begreifen, ohne alle drei Minuten politische Wasserstandsmeldungen durchgeben zu müssen. Beim Fußball hieß das mal: über den Kampf zum Spiel finden.

Wie die Worte fließen bei den verbotenen Früchten! »Jonagored, Novajo / Elstar, Karmijn, Rubi / Winterprinz, Ontario / Gravensteiner, Fuji / Berlepsch, Melrose, Ida Red…«Das könnten schicke Bandnamen sein (Ida Red ist ein Bandname!), in Distelmeyers Mund geraten sie zum poetischen Rap. Allein, es geht um Apfelsorten: »…kannst du mal versuchen / Und Geheimrat Oldenburg / Für den Apfelkuchen«, empfiehlt Blumfelds Apfelmann. Wer sich daran nicht freuen kann, dem wurde als Kind kein Apfelkuchen gebacken. Und nur wer als Kind keine Kunstwörter und Fantasiesprachen erfand, wird sich dem Strobohobo verweigern. In sechs Minuten singt Distelmeyer 244-mal den Urvokal O. Nicht mitgezählt das inkorrekt gesungene o in von Gogh. Gedruckt geht das nämlich so: »Von seinem Poster grinst van Gogh / Bis über beide Ohren.« Hatte er da noch beide Ohren? Nörgler werden Strobohobo als Kunsthandwerk abtun. Klar demonstriert Distelmeyer seine Wortgewalt, aber vor lauter O kommt die Story nicht unter die Räder. Große, auch alberne Songs, wie überhaupt eines maßlos unterschätzt wird bei Blumfelds heiligem Ernst: ihr Humor. Aber auch der Humor eines Leonard Cohen und eines Bob Dylan ist ja bis heute nicht angekommen in diesem Land, ob ihrer poetisch-erhabenen Tiefe.

Wie Joni Mitchell haben Cohen und Dylan den Songschreiber Distelmeyer begleitet auf dem langen Weg von der Hamburger Post-Hardcore-Härte zum lichten Klang von heute, den sich viele mit dem Kampfbegriff Schlager vom Leib halten. Dabei bieten Blumfeld offene Peinlichkeitsflanken, schon immer und mit den Jahren immer mehr. Je nach Tagesform kann einem der ganze Naturkram schon gehörig auf die Nerven gehen. Was aber nichts daran ändert, dass es sich hier um tolle Liedkunst handelt. Das muss auch zugeben, wer keinen Jambus vom Blankvers unterscheiden kann und einen trochäischen Sechsheber nicht erkennt, wenn er ihm über den Weg läuft. Also alle.

Im Übrigen ist Verbotene Früchte natürlich die Platte eines frisch gebackenen Vaters. Neben dem Raunen um die neue Religiosität sickerte im Vorfeld auch die Nachricht von einem neuen kleinen Distelmeyer in die Blumfeld-Gemeinde. Mit diesem Wissen hört man eine ganz andere Platte. Am Ende möchte man den kleinen Kerl beneiden um die entzückenden Märchen und Fabeln, die ihm sein Papa da vorsingt. Selbstverständlich weist Jochen Distelmeyer diese Deutung zurück. Die monokausale Verknüpfung von Leben und Werk verkommt zwangsläufig zur Promo-Homestory mit Babyfotos, auch wenn es keine Fotos gibt. Nein, darüber möchte er nicht reden, und überhaupt waren die Songs ja schon vorher fertig.

Was nichts daran ändert, dass Kleines Lied das schönste Schlaflied ist, das man sich wünschen kann. Fast so schön wie das Abendlied aus dem Testament der Angst: »Kleines Lied / Es kommt zu mir / Kommt und will mich tragen / Flüstert leise:/ Nimm es nicht so schwer.« Aber das, lieber Leser, muss man hören, denn er ist ein Sänger, der Jochen.

DIE ZEIT 20.04.2006 Nr.17
porcelaina
21.04.2006 - 14:20 Uhr
Dylan und die Beatles sind ein bischen hochgegriffen.
Klappskalli
21.04.2006 - 16:03 Uhr
Hmmm, wahre Worte irgendwie...

Sind Blumfeld cool, weil man ihnen Ironie unterstellt? Sind Silbermond doof, weil sie jung und naiv sind? Beide Bands stehen scheinbar unvereinbar für die Gegenpole deutscher Popmusik und bringen dieser Tage neue Alben heraus. Es gibt mehr Gemeinsamkeiten, als man denkt.


Wir sind Helden, die ersten Stars der neuesten deutschen Welle, haben es im letzten Jahr auf den Punkt gebracht: "Ich weiß nicht weiter, ich weiß nicht wo wir sind", sang Judith Holofernes im Titelsong des zweiten Helden-Albums "Von hier an blind". Der kleine deutsche Pop-Kompaktwagen, vermutlich ein Golf, war am Wegesrand liegen geblieben. Kein Navigationssystem half, dem eifrig propagierte Boom ging im Herbst 2005 nach kurzer Fahrt der Sprit aus.



Popband Blumfeld: Im Vorgarten gemütlich gemacht
Blumfeld hatten sich zu jener Zeit gemeinsam mit anderen Vertretern des alten deutschen Diskurspops gegen eine Nationalisierung des heimischen Liedguts ausgesprochen. Munter in Radiosendungen und Hitparaden herumturnende Sprösslinge wie Mia, Juli oder Annett Louisan galten als Vorzeigekünstler eines neuen deutschen Selbstbewusstseins, weil sie handgemachte - vulgo: ehrliche - Musik vorweisen konnten und dem turbokapitalistischen Erfolgsmodell der Castingstars ein Ende bereiteten. Die neuen Helden waren echte Bands und seriöse Talente, bieder und belanglos in ihren Botschaften, aber dafür dauerhaft auf Tournee, also hart arbeitend für das bisschen Ruhm. Ein tatsächlich sehr kuschliges und bodenständiges deutsches Gegenmodell zum ungehemmten globalen Spiel der monetären Kräfte.

Die "Alten", Blumfeld, Tocotronic und Konsorten, reagierten auf diese Attacke des rheinischen Kapitalismus mit einem letzten Aufbäumen linker Systemkritik und veröffentlichten den Sampler "I Can't Relax in Deutschland", auf dem noch einmal alle Urängste vor nationalistischen Tendenzen aufgeboten wurden. Auf der zugehörigen Diskussionsreihe wurde in bester K-Gruppenmanier für ein "universalistisches Popverständnis" plädiert. Auch dies eine insgesamt sehr deutsche Veranstaltung. Aber der Graben zwischen deutschem E- und U-Pop war gezogen. Die alten Systemkritiker wollten mit den jungen Pragmatikern nichts zu tun haben.

Doch wer sich nun eine Art Battle of the Bands erhofft hat, erlebt weitere Stagnation. Dieser Tage veröffentlichen zwei Hauptvertreter der beiden Fraktionen neue Platten, und beide schmoren im Saft der eigenen Nabelschau.





Da wären zunächst Blumfeld, deren Sänger und Songschreiber Jochen Distelmeyer sich seit Jahren immer mehr vom intellektuellen Systemkritiker zum naturverbundenen Bänkelsänger wandelt. Den ersten Stilwechsel vom deklamierenden Schrammelrock zum sanften Pop machten die Fans 1999 noch mit, auch wenn George-Michael-Melodien und hochemotionale Gesänge über Graue Wolken für Argwohn sorgten. Mit der reinen Vermutung jedoch, hinter seichtem Gedöns wie "Die Welt ist schön" verberge sich noch genug verklausulierte Ironie, retteten Blumfeld ihre Glaubwürdigkeit, auch wenn sie längst "Jenseits von Jedem" waren und niemand mehr so recht verstand, was das eigentlich alles bedeuten sollte. Erstmals, Pointe des Popgeschäfts, landete die Band in den Charts.



Popband Silbermond: Festklammern am Moment
Mit "Verbotene Früchte", dem sechsten Album der Hamburger Band, wird es nun allerdings schwer, intellektuelle Überbauten herbeizuhören. Wenn Distelmeyer im beschwingten Gassenhauer "Apfelmann" Apfelsorten aufzählt oder über die "Tiere um uns" meditiert, dann ist das zwar wunderschön anzuhören und begeistert allein durch den Willen zur puren Popmelodie - inhaltlich jedoch wagt der Mittdreißiger keinen Schritt mehr aus dem kleinen engen Vorgarten heraus. Die Blumen, die Schmetterlinge, das "Himmelszelt", vielleicht noch ein Fluss und die abstrakte Vorstellung vom "blauen Planeten" - all das reicht ihm zum Glücklichsein. All die anderen "leben wie Schatten, mit ihrer Sehnsucht nach Sinn". Hier hat ein Gewohnheitslinker erkannt, dass er im Grunde seines Herzens Spießer ist, und propagiert die Liebe zur Natur zugleich als Eskapismus und schöngeistigen Luxus, den sich nur der saturierte Bürger leisten kann. "Ich mache mir meinen Reim/ Und singe, was ich seh", trällert nun der, der sich einst, 1992, als Missgeburt empfand und wie ein Getriebener von der Unmöglichkeit sang, "Nein" zu sagen, ohne sich umzubringen.


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von Arndt

Von der Kinderlied-artigen Banalität solcher Verse wie "Tiere um uns/ Haben natürliche Feinde/ Das was sie bräuchten, wäre ein Freund" ist es nicht weit zur Naivität von Zeilen wie diesen: "In Zeiten wie diesen/ Ist es Zeit, neu anzufangen/ Denn aus Zeiten wie diesen/ Gibt es keinen Notausgang". Letztere stammt aus einem neuen Song der Band Silbermond, die soeben ihr zweites Album "Laut gedacht" veröffentlicht hat. Die Gruppe aus Bautzen in Sachsen wird gerne belächelt, weil sie aus drei Jungs und einer Frontfrau besteht und damit der erfolgreichen Blaupause folgt, die Wir sind Helden mit ihrem überraschenden Erfolg geschaffen haben. Doch Silbermond und Sängerin Stefanie Kloß betonen oft, dass sie sich trotz ihrer Jugend - alle sind Anfang Zwanzig - hochgearbeitet haben und sechs Jahre lang durch die Provinz tingelten, bis der Plattenvertrag winkte.





Seitdem feiert die Band Erfolge mit niedlichem Rotz-Rock ("Machs Dir selbst") und rührenden Balladen ("Symphonie") und ließ sich fast zwei Jahre Zeit, um dem Debüt eine Platte folgen zu lassen. Von Textzeilen wie der oben zitierten (aus dem Song "Zeiten wie diese") soll man sich jedoch nicht täuschen lassen. Ideologisch engagiert sind Silbermond nur so weit, wie es die politische Korrektheit vorschreibt. Gegen Nazis, gegen Krieg, gegen Magersucht und Klingelton-Terror ist der Frustrationsradar des Quartetts geeicht. Der Rest des Albums, untermauert durch die vorab veröffentlichte Ballade "Unendlich", dreht sich hübsch melodisch im Kreis.

Es geht ums Festhalten bei Silbermond, um dem Moment des Glücks, den die Band auf dem Zenit des ersten Erfolges erlebt hat. Allein die Songtitel sprechen Bände: "Das Ende vom Kreis", "Endlich", "So wie jetzt" und "Kartenhaus" zeugen vom Festklammern am Jetzt, der Angst vor Veränderung. Protzige, dem HipHop-Kosmos entnommene Plattitüden wie "Wenn die Anderen am Ende sind, fangen wir erst an" ("Wenn die Anderen") wirken wie hohle Gesten, zumal es im selben Song heißt: "Heute gehen wir aus uns raus/ Wir wissen noch nicht wohin".

Da ist sie also wieder, die Orientierungslosigkeit, die Suche nach dem Weiter. Der eine flüchtet in die Natur, die anderen verharren im Moment wie Häschen im gemütlichen Bau.

Man verstehe das nicht falsch: Silbermond sind eine durch und durch sympathische Band. Mancher mag unken, dass ihr Erfolg etwas mit der Langweile zu tun hat, die die vier Musiker verströmen. Fürwahr, wenn deutsche Rockbands heutzutage der neuen Biedermeier-Schule entstammen, dann sind Silbermond die Musterschüler: Musikmachen möchten sie, solange es geht, und davon leben können, erklären sie bodenständig. Dass Rockmusik etwas mit Rebellion, Glamour und Dissidenz zu tun hatte, davon scheint ihnen nie jemand etwas erzählt zu haben. Protestantische Bescheidenheit und Sicherung der Altersvorsorge, das sind die Koordinaten dieses Popsystems, für das Silbermond stehen wie keine andere Band. Mit Blumfeld haben sie nicht nur die Plattenfirma SonyBMG oder die pflichtschuldigst absolvierte Gastmoderation bei der Dudelfunkstation N-Joy gemein, sondern vor allem die kleinbürgerliche Harmlosigkeit ihrer neuesten Produktionen.

So werden Silbermond und Blumfeld - junge und alte Schule - längst nacheinander im Radio gespielt, und keiner stört sich daran. Der Frühling 2006 beschert auch dem deutschen Pop seine Große Koalition.

Quelle: www.spiegel.de

abacd
21.04.2006 - 16:18 Uhr
megapeinlich, *rofl*......

http://www.laut.de/vorlaut/feature/01890/index.htm
porcelaina
21.04.2006 - 16:23 Uhr
Ich würde Blumfeld trotzdem verteidigen wollen gegen solche Bands wie Silbermond und Wir sind Helden, die in meinen Augen einfach nur totaler Schrott sind.
Patte
21.04.2006 - 16:37 Uhr
@abacd:

*lol* Genial. Wenn's kein Teenie-Mädel, sondern ein Junge gewesen wäre, hätte er bestimmt ein paar Ohrfeigen aus der Tasche gezogen...*lach*

eins zwo
21.04.2006 - 16:42 Uhr
burger king was schreibt denn carsten von der visions?
burger king
21.04.2006 - 16:53 Uhr
er schreibt daß er den swing dieses albums liebt und es für die einsame insel eingepackt.

hab gestern noch zufällig gehört daß es im rolling stone vier einhalb von fünf sternen gibt. herr wigger, jetzt sind sie in der überzahl!
captain kidd
21.04.2006 - 16:56 Uhr
ich bin auch schon ganz heiß auf das album.
schunkell
22.04.2006 - 22:52 Uhr
was mich momentan sehr beschäftigt: wird die neue blumfeld-platte theresa-orlowski-geprüft sein oder nicht?
porcelaina
22.04.2006 - 23:27 Uhr
ist roger willemsen eigentlich blumfeld-fan?
sebsemilia
22.04.2006 - 23:35 Uhr
was werde hier für ansichten über rock´n´roll verbreitet ? das klingt für mich alles eher nach pubertät, hormon ausschüttung und so. ich hoffe, wer kreativität, rebellion, coolness & sex über 30 für ausgeschlossen hält, ist wenigstens konsequent. nach dem 30 geburtstag bitte nicht mehr das haus verlassen und klappe halten.

die oft zitierte ironie in blumfelds musik, wo wird die eigentlich gehört ??
bis auf wenige momente, meist zwischenrufe, findet ironie doch gar nicht statt.

der vorwurf, jochen hätte den kampf aufgegeben & sich ins private zurückgezogen nervt auch nur noch. wie unpassend wäre es, wenn jede platte mit texten a la diktatur der angepassten daher kommen würde ?! klassenkampf steht momentan nicht an, warum also lieder über aufstand und revolution schreiben ?

sebsemilia
22.04.2006 - 23:44 Uhr
ach ja, das neue album ist übrigends sehr fein und ich folge jochen gerne auf seiner wanderung.
Evianwässerchen
23.04.2006 - 00:32 Uhr
Da ist - das muss man wirklich sagen - wohl kaum auch nur ein Fünkchen von Ironie. Es geht vielleicht einfach um das gute Befinden eines Menschen; der lebt in Mitteleuropa - es ist auch vielleicht nicht angemessen dann die ganze Zeit sich über alles immer nur zu beschweren - ihm geht's gut, und ich find' das gut, und höre ihm gerne dabei zu.

Die bis auf die Spitze getriebene Subjektivität ist auch eine tolle Sache. Objektivität existiert ohnehin nicht, so wie so.
einglaswasser
23.04.2006 - 02:06 Uhr
argh, ich hab langsam echt lust aufs album.
sebsemilia
23.04.2006 - 09:45 Uhr
ich höre lieber jochen zu, wie er über das schöne leben singt, als thees. *g*
(aber egal.)
Souljacker
23.04.2006 - 09:50 Uhr
Toll, jetzt habt ihr es geschafft.

Nach "Jenseits von Jedem" habe ich mir geschworen: "Nie wieder ein Blumfeld Album".
Jetzt habt ihr mich neugierig gemacht. Ich glaube ich hassliebe die Platte schon jetzt.
Patte
23.04.2006 - 10:27 Uhr
Kaum Ironie? Dann sucht mal weiter.

Souljacker, allein schon wegen "Atem und Fleisch" und "Strobohobo" lohnt die Scheibe.
sebsemilia
23.04.2006 - 10:46 Uhr
du kannst auch einfach verraten wo die ironie steckt.
oder willst du es für dich behalten ?
Patte
23.04.2006 - 11:30 Uhr
Ich hab das schon mal in ein paar Beispielen erklärt (entweder in diesem oder anderen BF-Threads), find's aber auch immer doof, wenn ich das anderen so ausbreite, ihr sollt das doch selbst entdecken, mensch. ;)
sebsemilia
23.04.2006 - 16:22 Uhr
hm, meine ich habe den ganzen thread gestern gelesen, dabei ist michts aufgefallen. kann doch aber auch nicht so schwer sein, ein paar ironische blumfeld zeilen hier zu posten.

natürlich ist es ok, nicht immer alles oberlehrerhaft dozieren zu wollen. diskutieren wird dann nur schwierig.

wurde in dem spiegel artikel nicht auch immer von der ironie blumfelds gesprochen, ohne das einmal konkret auszuformulieren ??
Dida
23.04.2006 - 19:14 Uhr
porcelaina (21.04.2006 - 16:23 Uhr):
Ich würde Blumfeld trotzdem verteidigen wollen gegen solche Bands wie Silbermond und Wir sind Helden, die in meinen Augen einfach nur totaler Schrott sind.


lustig das gleiche würd ich über Blumfeld sagen ... totaler, unerträglicher Schrott
Mixtape
24.04.2006 - 07:40 Uhr
Dem Artikel aus dem heutigen Tagesspiegel kann ich nichts hinzufügen, stimmt alles:

(24.04.2006)

Distelmeyers Tierleben

Weltflucht als Programm: Blumfeld entdecken auf ihrem neuen Album die Natur

Von Kai Müller

Als die Trompete einsetzt, denkt man: Jetzt hat er den Verstand verloren. Muss es wirklich auch noch eine Trompete sein? Reicht es nicht, dass der erste Song der neuen Blumfeld-Platte, die in dieser Woche erscheint, von Schneewehen handelt, vom Briefträger, der sich seinen Weg durch die Froststarre bahnt, vom Nachbarn, der Salz auf spiegelnde Gehwege streut – und von Sänger Jochen Distelmeyers eigenen Schreibblockaden, die Gedankenschnee auf das weiße Papier vor ihm rieseln lassen? Ein Erschauern hat den Hamburger Liedermacher angesichts dieser Kälte erfasst, so ergriffen ist er vom „weißen Kleid“ der Landschaft, dass er die Zeilen mit zittrigem Tremolo ausmalt. Schließlich inspiriert ihn die Winterkulisse zu dem Satz: „Ich mach mir meinen Reim und singe, was ich seh.“ Himmel, ja!

„Verbotene Früchte“ heißt das sechste Blumfeld-Werk, und es präsentiert die über Jahre als „wichtigste deutschsprachige Band“ gefeierten Hamburger als versponnene Wandervogel-Truppe. Die sucht ihr Heil in einer gigantischen poetischen Umarmungsgeste, einer Art Distelmeyerschem Tierleben, in dem Krähen hacken, Igel tapsen, Füchse tollen, Bienen Honig schenken und der Tiger durch den Dschungel streicht. Mit dem Blick des Naturlyrikers versucht Distelmeyer jene Geschöpfe für die Popwelt zu gewinnen, die dort, wenn überhaupt, nur als Fabelwesen Zugang haben. Den vielen Flügeltieren, die in dem Song-Universum den Luftraum bevölkern, schaut er zunächst nur hinterher. Aber am Ende wird er sagen: „Ich fliege mit den Raben.“

Das ist kein Witz und auch nicht witzig gemeint. Vielmehr unterzieht der 39-jährige Popstar und Miterfinder des deutschen Diskurs-Rock sein Publikum erneut einer schweren Prüfung. Wen nicht schon 1999 seine Hinwendung zum Schlager-Genre („Tausend Tränen tief“) irritiert hat, der könnte sich nun mit Grausen von einer Platte abwenden, auf der es nach Ansicht ihres Schöpfers „um alles geht, was an Wirklichkeit, Welt einen umgibt und zwischen den Dingen besteht“. Denn wo es um alles geht, da geht es um nichts. Da verflüchtigt sich, was man von Pop-Platten erwartet. Dass sie ein Lebensgefühl an Musik koppeln, einem den Rücken stärken, vielleicht zu einer Haltung verhelfen und Sätze wie „Mein System kennt keine Grenzen“ über den Rang einer Bemerkung hinausheben. Pop ist mehr als ein lyrisches Experiment.

Für die Generation derjenigen, die mit Blumfeld ihre intellektuelle Sozialisation verknüpfen, war der Satz schon immer richtig. Man fand ihn auch bei Heiner Müller: „Mein Platz wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber.“ Aber es bedurfte des Songs auf dem umstrittenen Blumfeld-Album „Old Nobody“, um aus der theoretischen Debatte um Denkschranken, Parteinahmen und Vereinnahmungen eine Flammenschrift zu machen. Dergleichen findet sich auf „Verbotene Früchte“ nicht mehr. Überlebt hat lediglich der Reflex, aus der Musik mehr herauszuhören als die Worte hergeben. Ist die Weltflucht vielleicht die letzte politische Bastion? Was ist aus dem furiosen Zorn über die „Diktatur der Angepassten“ geworden? Gibt es keine Gründe mehr, sich über den Stumpfsinn zu erregen?

„Mich interessierte die Frage, was passiert, wenn wir irgendwelche Möwen, die selbst über keinerlei Geschichte verfügen, beobachten und zum Teil unserer Erzählung machen“, sagt Distelmeyer auf die Frage, ob seine Naturanbetung nicht reichlich eskapistische Züge trägt. „Ich fand sehr einleuchtend in der Joseph-Conrad-Verfilmung ,Apocalypse Now’, wie Marlon Brando am Ende dasitzt und sagt: ,Ich habe das Grauen gesehen.’ Ein sehr gelungener Kommentar auf die unseren Blick auf die Welt fundierende romantisch-technokratische Perspektive. Denn genau mit dieser Erwartung, die Colonel Kurtz an den Dschungel stellt – ich gucke da hinein, befrage die Wildnis nach einem Sinn für mein Tun – scheitert er komplett. Der ,Horror’ ist, dass die Natur nicht antwortet. Maximal: Pchuiii- huiii- huiii.“

Distelmeyer kann Vogelgezwitscher gut nachahmen. Der schmallippige Mann, dessen Gesichtszüge von einer unergründlichen Disziplin und Trauer geprägt sind, war noch nie von dieser Welt. Deshalb mag die Entdeckung der Natur für ihn eine Sensation darstellen. Uns irdische Zyniker berührt sie peinlich. Und es hilft auch nicht, einen Song wie „Tiere um uns“ mit dem Hinweis erläutert zu bekommen, dass es darin um „menschliche Zivilisationstechniken“ geht. „Wenn es ein Video zu dem Song gäbe“, sagt Distelmeyer, „könnte die Kamera an einer Fleischtheke entlangschwenken oder tote Schwäne vor Rügen zeigen.“ Ob solche Bilder von Massentierhaltung und -schlachtung bei ihm Empörung auslösen? „Puhh“, die Antwort. Er habe das nicht bewerten wollen.

Distelmeyers Bedürfnis, in Ordnungen zu denken, statt Meinungen zu verbreiten, ist berüchtigt. Ihm verdankt er seine stärksten Lieder. Und so möchte man seine neuen Stücke auch als hintergründige Versuchsanordnungen lesen, die ihr Geheimnis erst auf den zweiten Blick preisgeben: „Der Apfelmann“, ein einfältiges Loblied auf einen Obstbauern, ist einfach zu kurios, um es ernst zu nehmen; „Heiß die Segel“, ein erschreckend konventionelles Seemannslied, zeigt, wie verbraucht das Maritime als Mythenreservoir ist; und ein Schwank wie „Der sich dachte“ stellt das eigene Leben nach dem alten Goethe-Schema als ewige Bildungsreise aus. Allein, es ist vergeblich. Um das nicht betulich zu finden, müsste man Songs wie „Schmetterlings Gang“, eine Acid-getränkte, von Sitar-Girlanden umrankte Sommerhymne, schon mit Gewalt gegen den Strich lesen.

Die Akustikgitarre ist darüber zum dominanten Instrument geworden. Sie wird gezupft, geschrammelt und elektrisch verstärkt, doch verbreitet sie etwas gediegen Passives. Der Rest der zuletzt immer wieder umbesetzten Band holpert gemächlich durch die Beats. Gelegentlich klimpert ein Piano. Auf den langjährigen Produzenten Chris von Rautenkranz glaubte man verzichten zu können. Nur zweimal bäumen sich Blumfeld so energisch auf wie zu Beginn ihrer Karriere, als sie mit „Ich-Maschine“ (1992) und „L’Etat et moi“ (1994) aus dem verwirrten Entfremdungs-Ich ein wortgewaltiges Selbstfindungsmonster machten. „Tok, tok, tok, mein Mikrofon wird zur Lokomotive“, heißt es in „Strobohobo“. „Beam mich zurück nach Babylon/ Wo bleibt das Positive?“ Und der Bass von Lars Precht stürmt voran, Andre Rattay am Schlagzeug hämmert Seitenpfähle in den Boden und Vredeber Albrecht legt gleißende Synthesizer-Akkorde darüber. Auch in der Vorab–Single „Tics“, dem besten Song auf „Verbotene Früchte“, werden Gefühle durch einen Reflexionswolf gedreht, um sie sich vom Leib zu halten. Die Bilder wechseln so schnell, dass sie einander auffressen.

Das Dumme an der Popmusik ist, dass sie mit wachsender Lebenserfahrung nicht unbedingt klüger wird. So dürfen junge Künstler zwar reden wie alte Männer, die von ihren Schlachten erzählen, von den vielen Bettgeschichten und Niederlagen, aber irgendwann klingt ein Satz wie „die Wahrheit tut weh“ nur noch altklug. Distelmeyers Drama besteht darin, dass er heute die Dinge wirklich meint, die er früher schon gesagt hat. Reifer klingen sie deshalb nicht. „Eeeees gibt nur diese Welt“, heben er und seine Mitstreiter zu einem Beach-Boys-Choral an: „Wiiiir sind auf uns gestellt/ Jeeeeder auf seine Art/ Hiiieer in der Gegenwart.“ Ach, du lieber Himmel!
Sick
24.04.2006 - 08:10 Uhr
Mann, wie das polarisiert.
Nach dem schwächeren letzten Album inklusive Kopierschutztour wollte ich eigentlich Verbotene Früchte ignorieren und mir vielleicht irgendwann mal eine Kopie zulegen.
Aber ich glaube ich werde gleich eine Bestellung tätigen...

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