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Kurzgeschichten

User Beitrag
Mr. X
13.02.2005 - 16:18 Uhr
Ich hab' für eine Freundin von mir eine kleine Kurzgeschichte verfasst (ich nenne sie jetzt einfach mal so, auch wenn sie wohl kaum ein Kriterium erfüllt). Wollte mal vorher testen, wie sie so ankommt. Soll halt nur eine nette Ablenkung vom Uni-Alltag sein. Wäre nett, wenn's Meinungen dazu gäbe.



„Ich bin nur drei Jahre jünger. In drei Jahren könnte ich dort stehen,“ dachte er und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Er sprach aus, was er gedacht hatte und lächelte sie an. Sie lächelte zurück und stieß ihn sanft mit der Hand vor den Kopf.
„Ich meine, das könnte ich auch,“ sagte er verschmitzt. „Sicher“, erwiderte sie, „nur würdest du die Krone der Volksmusik moderieren, wäre das so, als wenn die Kastelruther Spatzen ‚Rock am Ring’ eröffnen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, wie du in drei Jahren die Wildecker Herzbuben oder die Randfichten ansagst, falls die einen nicht geplatzt und die anderen nicht längst wieder in der Versenkung verschwunden sind.“ Sie mussten beide lachen.
„In drei Jahren kann sich natürlich viel ändern,“ fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. „Vielleicht siehst du dann wirklich manche Dinge in einem anderen Licht.“ Ihre Stimme klang jetzt wieder ernster. Der ironische Unterton war verschwunden.
„Ich wüsste nicht, was mich dazu bringen sollte in drei Jahren als singendes Honigkuchenpferd aufzutreten,“ entgegnete er flapsig. „Das wohl eher nicht, aber glaubst du, dass wir dann noch zusammen sind und wir immer noch während der Werbung diesen blonden Milchbubi auslachen werden?“ Sie lächelte und zog dabei die Augenbrauen hoch.
„Ob der dann noch im Fernsehen zu sehen sein wird oder ob er bis dahin auf seinen Tourneen durch die Altersheime Deutschlands längst zum Alkoholiker geworden ist, weiß ich nicht,“ sagte er, zuckte leicht mit den Schultern und nahm ihre Hand. Ein paar Atemzüge vergingen. „Weißt du, ich habe vor gut einem Jahr ein Mädchen kennen gelernt,“ begann er. „Das erste was mir an ihr aufgefallen war, war ihre Ähnlichkeit mit meinem Cousin. Das hört sich jetzt vielleicht überspitzt an, aber so war es. Ihre Gesichtszüge ähnelten sich. Sie war dennoch hübsch und überaus freundlich.“ Er stellte den Fernseher mit der Fernbedienung aus. An diesem Samstag zeigten sie „Invasion der Barbaren“ im Fernsehen. Sie hatten bis eben noch darauf gewartet, dass er anfing. Er lehnte sich wieder zurück und erzählte weiter. „Mit jedem weiteren Tag hatte ich mehr und mehr den Eindruck, dass ich ihr durchaus sympathisch bin und sie, wie ich zu der Zeit, einsam, im Gegensatz zu mir aber geradezu verzweifelt auf der Suche nach jemandem war. Ich hatte mir damals zwei Möglichkeiten in Aussicht gestellt. Ich würde mich entweder durch puren Zufall verlieben oder mutig auf die Suche gehen, sobald ich meinen geplanten Umzug hinter mir hatte. Vom ersten Moment an wusste ich, dass die erste Möglichkeit durch sie nicht erfüllt wurde, da wir einfach nicht zusammen passten.“
Er überlegte kurz und fuhr dann fort. „Mit einer Frau eine Beziehung einzugehen, nur weil sie sich in mich verliebt hatte und ich nicht länger allein bleiben wollte, wäre einfach unehrlich gewesen und hätte für beide schmerzlich geendet, das wusste ich.“
„Was passierte dann?“, fragte sie und blickte ihn mit ihren braunen Augen liebevoll an. „Sie hatte nach einigen Versuchen, mich dazu zu bringen, sie zu irgendetwas einzuladen, begriffen, dass ich nicht interessiert war.“ Er hielt kurz inne und dachte, wie überraschend einfach sich die Sache damals erledigt hatte.
„Die Zeit verging, ich zog um und noch bevor ich auf meine geplante Suche gehen konnte, lernte ich dich kennen.“ Er legte seinen Arm um sie. „Dann habe ich mich in dich verliebt, in dein Lächeln, deine Stimme, in deine ganze liebenswerte Art. Aber die Geschichte kennst du ja.“ Sie küssten sich.

„Und hier sehen wir, wie auf dem Marktplatz eine Möwe eine Taube frisst,“ hörte sie die gleichgültig klingende Stimme sagen. „Als ich im Programm ‚eine Dokumentation über Venedig’ gelesen habe, habe ich mir irgendwie etwas anderes vorgestellt“, sagte sie leise zu sich selbst. Es war Sonntag und noch recht früh, so gegen halb zehn. Sie stellte den Fernseher aus und ging durch den Flur in die Küche. Bis auf das Surren des Kühlschranks war es still. Die Sonne schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in warmes Licht. Sie sah nach draußen und dachte nach. Vor zwei Wochen hatte ihr Freund sie nach dreieinhalb Jahren verlassen.
Die Gründe dafür mögen, wenn man die Geschichte ihrer Beziehung kannte, mehr als merkwürdig erscheinen.
„Was ist nur passiert?“, fragte sie sich. Es klopfte. Ihr Blick ging sofort zur Tür. Sie öffnete. Es war eine Freundin, die sie vor einer Viertelstunde angerufen hatte. Sie brauchte jemanden zum reden und Annette wohnte in der Nähe. Nach dem sie sich den Mantel ausgezogen und ihn sorgfältig über einen Stuhl gelegt hatte, gingen beide ins Wohnzimmer. Annette setzte sich auf das blaue Sofa. Sarah nahm im Sessel Platz und fing sofort an zu reden.
„Ich kann das alles immer noch nicht begreifen.“ Sie stützte ihre Stirn auf ihre Hände und schloss für einen Moment die Augen. Sie blickte wieder auf. „Ich verstehe nicht, dass ich mir nie etwas dabei gedacht habe, dass er neuerdings nur noch schwarz trug. Ich war zwar nicht unbedingt dafür, dass er sich die Haare lang wachsen ließ, wollte ihm dabei aber auch nicht dreinreden. Und vor zwei Wochen dann, ich kam gerade vom Einkaufen nach Hause, ging genau in dem Moment die Tür auf, als ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte. Da stand er vor mir. Die Augen dunkel geschminkt, ein Nietenband um den Hals, eins um das rechte Handgelenk. Auf seinem Pullover stand in roter Schrift ‚Iron Maiden’. In der linken Hand trug einen Koffer in der rechten seine E-gitarre.
‚Ich gehe’, sagte er. ‚Mach’s gut!’ Ich war völlig vor den Kopf gestoßen.“ „Du hattest ja auch gesagt, dass er Abends immer lange allein wegging,“ erinnerte sich Annette.
„Ich weiß auch warum. Es war keine andere Frau, wie ich zunächst dachte. Es waren seine drei düsteren Freunde mit denen er bis spät in die Nacht probte. Klammheimlich hat er doch glatt angefangen, eine Death-Metall-Band auf die Beine zu stellen. Und du wirst nicht glauben, was ich gestern Nacht im Fernsehen gesehen habe.“
„Was?“, fragte Annette sichtlich gespannt. „Ihr erstes Video“, sagte Sarah. „Sie nennen sich ‚Gory Vampires’ und ihr Song heißt ‚Blood, Blood, Blood’. Es sieht so aus, als hätten sie den Clip auf einem Pappmaschee-Friedhof gedreht. Und mein Ex-Freund schüttelt seinen Kopf solange bis er ihm vom Hals rutscht und in eins der offenen Gräber fällt.“
Dirty
13.02.2005 - 18:47 Uhr
willkommen auf kurzgeschichten.de

wer zur hölle liest sich das jetzt durch???
Sidekick
13.02.2005 - 19:10 Uhr
Geil. die Story ist absolut geil. Ein Paar trennt sich, weil der Typ anstatt Moderator einer Volksmusikshow ein Death Metal-Gitarrist geworden ist. Absolut geil!
Daniela
13.02.2005 - 19:25 Uhr
So hab ich das aber nicht verstanden. Eigentlich hab ich sie gar nicht verstanden. Zumindest die Aussage nicht.
Aber mal abgesehen davon, wo sagt sie denn, dass sie wünschte, er würde der Moderator einer Volksmusikshow?
Sebastian
13.02.2005 - 19:50 Uhr
ich find die geschichte ist gut erzählt, jetzt bekomm ich noch mehr angst vor einer verwandlung zum gothicman, dieses phänomen geht schon länger in meinem bekanntenkreis um!
Mr. X
13.02.2005 - 19:54 Uhr
Essenz:
- ein Witz kann mit der Zeit (wenn auch in veränderter Form) durchaus (traurige)Realität werden
- Volksmusik und Heavy Metal sind sich im Grunde doch recht ähnlich

Damian
13.02.2005 - 22:03 Uhr
Essenz:
Volkmusik und Heavy Metal sind beides ganz großer Mist. Der Vorteil bei Volksmusik ist aber man kann seine Freundin behalten, bei Metal bekommt man höchstens Kopfschmerzen von headbanging.
nordkap
13.02.2005 - 22:14 Uhr
Es wirkt nicht so gut, dass "sie" eigentlich immer nur "sie" heißt und wenn die Freundin Kommt auf einmal "Sarah", und dann auch nur an der Stelle. Ich würde die Namen rauslassen. Auch das "Ex-Freund" am Schluss wirkt irgendwie reingequetscht, außerdem glaube ich auch nicht, dass sie in der Situation "mein Ex-Freund" sagen würde.
Mr. X
14.02.2005 - 16:20 Uhr
Ich habe auf Grund nordkaps berechtigter Kritik die zweite Hälfte überarbeitet. Ich musste allerdings die Freundin streichen, um die Namenlosigkeit wiederherzustellen.
Wen es noch interessiert, kann es sich ja durchlesen. Mich würde desweiteren nordkaps Gesamteindruck interessieren. Schonmal vielen Dank für eure Meinungen.

„Und hier sehen wir, wie auf dem Marktplatz eine Möwe eine Taube frisst,“ hörte sie die gleichgültig klingende Stimme sagen. „Als ich im Programm ‚eine Dokumentation über Venedig’ gelesen habe, habe ich mir irgendwie etwas anderes vorgestellt“, sagte sie leise zu sich selbst. Es war Sonntag und noch recht früh, so gegen halb zehn. Sie stellte den Fernseher aus und ging durch den Flur in die Küche. Bis auf das Surren des Kühlschranks war es still. Die Sonne schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in warmes Licht. Sie sah nach draußen und dachte nach. Vor einer Woche hatte ihr Freund sie nach dreieinhalb Jahren verlassen.
Die Gründe dafür mögen, wenn man die Geschichte ihrer Beziehung kannte, mehr als merkwürdig erscheinen.
„Was ist nur passiert?“, fragte sie sich. Das Telefon klingelte. Beim zweiten Klingeln drehte sie sich um, ging langsam in den Flur und hob den Hörer ab. Es war ihre Mutter, die sie gewöhnlich alle zwei Wochen einmal anrief.
„Katharina Behlen.“ „Na, mein Kleines. Wie geht’s dir?“
„Hallo, Mama. Nicht besonders.“ Sie seufzte leicht und ging mit dem tragbaren Telefon ins Wohnzimmer, setzte sich auf das blaue Sofa, dass sie mit ihm vor gut einem Jahr ausgesucht und gekauft hatte, und sprach weiter. „Thomas ist gegangen.“
„Wie meinst du das,“ fragte ihre Mutter besorgt.
„Weg. Einfach so. Ich kann es immer noch nicht begreifen.“ Sie stützte ihre Stirn auf ihre Hand und schloss die Augen. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten. Sie hob ihren Kopf und fuhr fort.
„Vor zwei Wochen ist er gegangen. Ich kam gerade vom Einkaufen nach Hause und in genau dem Moment, als ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, ging die Tür auf und da stand er vor mir. Die Augen dunkel geschminkt, ein Nietenband um den Hals, eins um das rechte Handgelenk. Auf seinem Pullover stand in roter Schrift ‚Iron Maiden’. In der linken Hand trug er einen Koffer in der rechten seine E-gitarre.“
Ihr Blick ging an den Wänden entlang durch den Raum. Dort hingen immer noch die Bilder ihrer gemeinsamen Vergangenheit.
„Hat er denn nichts gesagt“, wollte ihre Mutter wissen.
„‚Ich gehe. Mach’s gut!’ Mehr hat er nicht gesagt. Er schob sich an mir vorbei, ging die Treppe hinunter, durch Tür und nach draußen. Für einen Moment war ich wie gelähmt. Ich bin natürlich hinter ihm her, aber er war schon in sein Auto gestiegen und davongefahren.
„Du hattest ja auch gesagt, dass er Abends immer lange allein wegging,“ erinnerte sich seine Mutter.
„Ich weiß auch warum. Es war keine andere Frau, wie ich zunächst dachte. Es waren seine drei düsteren Freunde mit denen er bis in die Nacht probte. Klammheimlich hat er doch glatt angefangen, eine Death-Metal-Band auf die Beine zu stellen. Mir will jetzt einfach nicht in den Kopf, warum ich mir nie etwas dabei gedacht habe, dass er neuerdings nur noch schwarz trug. Ich war auch nicht unbedingt dafür, dass er sich die Haare lang wachsen ließ, wollte ihm darin aber nicht seine Freiheit nehmen.“
„Woher weißt du das denn?“, fragte sie ihre Mutter interessiert.
„Weil ich sie gestern Abend im Fernsehen gesehen habe.“
„Was? Im Fernsehen?“, fragte ihre Mutter sichtlich gespannt.
„Ja. Bei ‚Hell’s Kitchen’ lief ihr erstes Video“, antwortete sie. „Sie nennen sich ‚The Gory Vampires’ und ihr Song heißt ‚Blood, Blood, Blood’. Es sieht so aus, als hätten sie den Clip auf einem Pappmaschee-Friedhof gedreht. Und er schüttelt seine lange Mähne solange bis ihm der Kopf von den Schultern rutscht und in eins der offenen Gräber fällt.“
Mr. Y
14.02.2005 - 16:23 Uhr
Zuviel Freizeit kann schon mal richtig fiese Effekte nach sich ziehen.
Peter
14.02.2005 - 16:47 Uhr
Wo kommt auf einmal seine Mutter her? ;D
(9.Zeile von unten)
Mr. X
14.02.2005 - 18:32 Uhr
Ich musste das doch irgendwie runder gestalten. Namen sind zwar jetzt trotzdem erwähnt, aber deutlich dezenter eingesetzt.

@Mr.Y

Na ja, war halt Sonntag.
R+
19.02.2005 - 15:45 Uhr
ich würde gerne meine kurzgeschichte hier veröffentlichen aber wie kann man geschichten und bilder in das/den eingabefenster/threat kopieren?
Mr. X
19.02.2005 - 16:08 Uhr
Schreiben, markieren, kopieren, einfügen: Fertig!
R+
19.02.2005 - 18:51 Uhr
mist geht aber nicht...ich kann nichts einfügen (kann das gar nicht anklicken...
Mr. X
19.02.2005 - 19:42 Uhr
seltsam, seltsam
Daniela
27.02.2005 - 16:44 Uhr
Kannst sie nicht verlinken?
jim cunningham
12.12.2005 - 22:35 Uhr
ich suche verzweifelt nach ner geschichte die seiltänzer(?) mal hier reingeschrieben hat...könnte vielleicht jemand mal den fred hochposten?wäre nett...es ging um nen kerl der selbstmord begeht...ich würde sie gerne ner freundin vorlesen...
zany
12.12.2005 - 22:41 Uhr
Die hier?
Die ist übrigens aus dem "Anekdoten aus dem Leben"-Thread...

Seiltänzer (03.10.2005 - 19:59 Uhr):
Der Thread ist toll. Das kommt jetzt hier rein. Ist aber ziemlich lang. Sorry schonmal dafür.

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Und plötzlich war er weg...

Als hätte ihn in einem kurzen Moment nichts mehr gekümmert, als wäre ihm plötzlich alles egal gewesen. Er hatte seine Wohnung zurückgelassen, die noch nicht bezahlten Rechnungen, das gesamte Inventar, sogar seine Bücher und CD-Sammlung, die er so heiß und innig geliebt hatte, und auch sein Wellensittich, dem er den Namen Tristan gegeben hatte, schaukelte einsam und verlassen im Käfig vor sich hin. Er hatte seine Freunde zurückgelassen, seine Eltern, seine Bekanntschaften, einfach alle Personen, die sich in seinem näheren Umfeld befunden hatten. Er hatte auch mich zurückgelassen und diese Erkenntnis stach mir schmerzhaft in die Brust, als ich zum ersten mal, seitdem er verschwunden war, seine Wohnung betrat. Er hatte alles ordentlich zurückgelassen, hatte ein letztes mal aufgeräumt, sogar geputzt, obwohl er nie so ein Ordnungsmensch gewesen war. Staub hatte noch nicht angesetzt, dazu war er einfach noch nicht lange genug fort. Die Wohnung sah fast aus wie immer, und so hätte ich sie beinahe auf dem schnellsten Weg wieder verlassen, was mir aber direkt ins Auge stach, war der kleine Zettel, den er zurückgelassen hatte: Das letzte Grußwort, das Abschiedsgeschenk eines einsamen Wanderers, der von nun an allein weiter ziehen will: „Es tut mir leid, dass ich euch jetzt allein lasse. Aber ich denke ich war lange genug hier, um nun weiterzuziehen. Mal sehen wohin mich der Wind trägt!“ Mehr war da nicht zu lesen, aber es genügte mir: Es war wie alles, was er geschrieben hatte: Kurz, prägnant, nicht ohne Pathos, aber mit dem typischen Augenzwinkern, dass man herauslas, wenn man ihn gut genug kannte. Ich betrachtete seinen Schreibtisch, seine Bilder, die er gemalt hatte, seine Fotos und Postkarten die noch überall herumlagen. Da war der Himalaja zu sehen, Straßenbilder aus Bangkok, indische Seeleute, Schlangenbeschwörer. Er hatte Indien geliebt, es war sein Traumland gewesen, die Menschen, die Atmosphäre, die Straßen, einfach alles. Er hatte immer davon geschwärmt, obwohl er es nie dorthin geschafft hatte. Er hatte den gesamten asiatischen Osten geliebt, obwohl er nie aus Deutschland herausgekommen war: Zuviel Verantwortung, zu viele Bedenken, zu viel Angst. Er hatte immer gesagt, wie gerne er mal nach China gehen würde, obwohl er das Land nur von Postkarten kannte. Auch Südamerika und Australien hatten ihn seit jeher angezogen, auch wenn er angeblich unter panischer Flugangst litt und schon von einer Bootsfahrt auf der Havel seekrank wurde. Er war immer ein seltsamer Mensch gewesen, voller Fernweh und trotzdem voller Angst seine Wohnung zu verlassen. Mir wurde wieder schlagartig klar, wie er sehr ich ihn vermissen würde und doch konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: Hatte es der Mistkerl also letzten Endes doch geschafft... Einfach die Koffer gepackt und ab seinen Träumen nach. Alle Vorsichten über Bord geworfen, die ihn so lange gefesselt hatten. War ganz heimlich, still und leise zum nächsten Hafen gewandert, hatte als Matrose angeheuert und war nun gerade auf dem schnellsten Weg nach Südamerika. Er schrubbte das Boot, bediente die Gäste und spürte nichts mehr von seiner Seekrankheit. Vielleicht hatte er auch den Zug genommen, war im Moment quer durch Russland unterwegs, den ostasiatischen Raum bereits im Visier. Die Gleisen würden unter ihm knattern, er würde ein Glas Wodka trinken und mit jedem Schluck der Freiheit näher kommen, die sich wie ein warmer Fluss in seinem Körper ausbreitete. Er würde seinen Weg machen, egal ob übers Meer, mit der Eisenbahn, mit dem Flugzeug oder gar zu Fuß. Er würde seine Ziele finden und auf ihn würden noch eine Menge Abenteuer warten, er würde einfach dem Ruf der Ferne folgen, der ihm vom Wind bedächtig ins Ohr geflüstert wird... Leider ohne mich, aber die Freude an seinem Ausbruch, war mir der Verlustschmerz in diesem Moment wert. Wenn jemand diese Freiheit verdiente, dann war er es.

Drei Jahre sind seitdem vergangen und er fehlt mir mehr denn je. Ich habe den Zettel, den er geschrieben hat, bei mir zu hause gut aufbewahrt. Er soll sehen, dass ich ihn nicht vergessen habe, falls er wieder zurückkommt, an meine Haustür klopft und mit seinem typischen Augenzwinkern einfach sagt: „Hier bin ich wieder“, als wäre es das Normalste der Welt. Ich lese den Zettel öfter durch und stelle mir vor, wie er jetzt lebt: Mal ist er ein Fischer auf Sri Lanka, hat dort geheiratet, ein Kind ist schon unterwegs, und er beobachtet zusammen mit der Frau seiner Träume nachts die Sterne. Mal besitzt er eine Kneipe irgendwo in Mexiko, er hat sich eine neue Existenz aufgebaut, hat viele Freunde unter seinen Kunden und hat den Ruf, das beste Bier in ganz Amerika auszuschenken. Er könnte auch ein Flugbegleiter sein, bei einem großen Flugunternehmen. Er kann überall hinfliegen, alle Kontinente besuchen, die er schon immer mal sehen wollte und die tausend Postkarten und Fotos von Freunden durch reelle Erinnerungen austauschen. Dann wiederum stelle ich mir vor, er wäre einfach weiter gewandert, sei immer noch unterwegs. Er hat viele Menschen getroffen, die ihm geholfen haben, sich selbst zu finden. Und nun wandert er einfach, als Mensch, als Erleuchteter, als jemand der seinen Weg gefunden hat und diesen nun beschreitet. Vielleicht ist er irgendwann nach langer Wanderschaft sesshaft geworden und lebt nun als Prediger in seinem Traumland, Indien, vielleicht hat er das gefunden wonach er gesucht hat, vielleicht. Diese Gedanken trösten mich, helfen mir über den Schmerz der plötzlichen Trennung hinweg und geben mir das Gefühl, dass es ihm jetzt gut geht. Auch wenn ich genau weiß, dass dies nicht der Wahrheit entspricht: Denn als drei Tage nach seinem Verschwinden das Telefon läutete musste ich nicht lange raten, wer dran war. Sie hatten seinen zerschmetterten Körper auf einem abgelegenen Gleis zwischen Berlin und Cottbus gefunden. Der Zug hatte ihn frontal erwischt, so wie er es sich gewünscht hatte, und sein Tod war dadurch kurz und schmerzlos gewesen. Sie sagten mir, niemand hätte so etwas ahnen können, aber seine Probleme seien zu groß geworden und er hätte keine Kraft mehr besessen, um Hilfe zu rufen. Sein Tod sei eine unerwartete Tragödie. Ich wusste, dass das nicht stimmte: Schon am Tag nach seinem Verschwinden, als ich seine Wohnung betrat und den Zettel las, wusste ich, dass er weder nach Indien noch nach Südamerika gegangen war: kein Augenzwinkern, keine Selbstpräsentation, die er sonst so liebte. Er hatte sich still und leise aus dem Staub gemacht, und er war ebenso still und einsam gestorben.

Manchmal stelle ich mir vor, wo er jetzt sein mag, wie sein Leben nach dem Tod aussieht: Vielleicht wurde er wiedergeboren, lebt unmittelbar als kleines Kind in meiner Nachbarschaft, vielleicht ist er auch eine Blume oder ein Vogel, in dessen Gestalt er endlich frei sein kann, vielleicht hat er seinen Frieden mit Gott gemacht und ist jetzt irgendwo in einer Welt, die ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen kann, vielleicht hat er auch den Frieden mit sich selbst gemacht, vielleicht lebt er in irgendeiner Form ewig weiter, glücklich, frei und ohne Angst; vielleicht ist er aber auch ein Kneipenwirt in Mexiko, ein Fischer auf Sri Lanka, oder ein Wanderer in Indien.
jim cunningham
12.12.2005 - 22:43 Uhr
vielen dank...jetzt wirds doch noch romantisch-nachdenklich hier=)

Huhnmeister

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Registriert seit 22.08.2022

01.06.2025 - 14:52 Uhr
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Das mutige Pumpernickel mit der orangenen Plümmelmütze

Es war einmal ein kleines, rundes Pumpernickel namens Pumpo, das in einer Bäckerei in Wuppertal lebte. Pumpo war kein gewöhnliches Pumpernickel – es trug eine leuchtend orange Plümmelmütze, die es überallhin begleitete. Eines Tages beschloss Pumpo, die vertraute Heimat zu verlassen und ein großes Abenteuer zu erleben.

Mit einem kleinen Koffer voller Körner und einem mutigen Herzen machte sich Pumpo auf den Weg nach Grönland. Es reiste auf einem Eisbrecher, der durch die arktischen Gewässer fuhr, und schon bald landete es auf der eisigen Insel.

Doch das war erst der Anfang! In Grönland angekommen, traf Pumpo auf eine Gruppe verrückter Eisbären, die alle bunte Hüte trugen und gerne tanzen. Einer der Eisbären, namens Olaf, schlug vor, eine Schneemann-Party zu veranstalten. Pumpo war begeistert und schloss sich sofort an. Gemeinsam bauten sie einen riesigen Schneemann, der so groß war, dass er fast den Himmel berührte.

Doch das war nur der Anfang der verrückten Abenteuer! Eines Tages entdeckte Pumpo eine geheime Gletscherspalte, die in eine unterirdische Welt führte. Neugierig kletterte es hinein und fand eine verborgene Eishöhle voller funkelnder Kristalle. Plötzlich begann die Höhle zu vibrieren – ein Gletscherdrache erwachte zum Leben! Aber keine Sorge, Pumpo war mutig. Es sang ein fröhliches Lied, und der Drache, der eigentlich nur einsam war, wurde freundlich und lud Pumpo zu einer Flugshow auf seinem Rücken ein.

Während des Fluges durch die Nordlichter sah Pumpo die verrücktesten Dinge: tanzende Polarfüchse, singende Robben und sogar einen Wal, der eine Oper sang! Es war das wildeste Abenteuer, das Pumpo je erlebt hatte.

Am Ende seiner Reise war Pumpo so glücklich wie nie zuvor. Es hatte Freunde gefunden, unglaubliche Dinge gesehen und gelernt, dass Mut und Neugier die besten Begleiter sind – egal, wie verrückt das Abenteuer auch sein mag.

Und so kehrte Pumpo mit seiner orangenen Plümmelmütze nach Wuppertal zurück, bereit, von seinen unglaublichen Abenteuern zu erzählen – und vielleicht, um bald wieder aufzubrechen in ein neues, verrücktes Abenteuer!

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