Autotomate
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30.09.2022 - 09:10 Uhr
Ich bin mal so frei...
Die Urfassung habe ich doch ziemlich schnell weggelegt und stattdessen die "Standardversion" rausgekramt, weil mMn – bis auf den Titel – dort vieles einfach zu recht verbessert wurde. Insbesondere das nachträglich verfasste 3. Kapitel habe ich in der UF doch sehr vermisst. |
Deaf
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30.09.2022 - 10:52 Uhr
Ich fand das Buch richtig stark. Es wirkt so aktuell, dass man beim Lesen kaum bemerkt, dass mittlerweile fast 100 Jahre vergangen sind, was einerseits für Kästner spricht und gleichzeitig die heutige Gesellschaft in Frage stellt.
Ich kannte die damals veröffentlichte Version nicht, daher konnte ich das nachträchliche Kapitel nicht vermissen (man kann es aber im Anhang nachlesen). |
myx
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30.09.2022 - 11:23 Uhr
Mir geht es wie Deaf, im doppelten Sinne: Einerseits finde ich den Roman ebenfalls richtig stark (ja sogar richtig richtig stark, ich vergebe eine glatte 10/10). Andererseits kenne ich ebenfalls nur die Buchclub-Version, kann also leider zum Textvergleich nichts beitragen. Den Anhang habe ich noch nicht fertig gelesen, das hole ich in Kürze in einer freien Stunde noch nach.
Aktuell bzw. zeitlos empfinde ich den Roman v. a. deshalb, weil er zentrale Fragen, ich nenne es mal Menscheitsfragen, behandelt und den Nagel aus meiner Sicht in vielem genau auf den Kopf trifft. Dazu später dann noch mehr.
@Autotomate: Kannst du das noch ein wenig erläutern? Was hat dich sprachlich gestört und was erscheint dir am fehlenden Kapitel für den Roman als derart wichtig bzw. welche Inhalte daraus hast du sehr vermisst? |
MopedTobias (Marvin)
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30.09.2022 - 11:37 Uhr
Das dritte Kapitel ist der einzige Verlust der Urfassung, da es im Apparat am Ende wie jede andere Änderung auch festgehalten ist, ist es aber auch nicht wirklich verloren. Ansonsten ist der "Gang vor die Hunde" doch in jeder ästhetischen und inhaltlichen Hinsicht dem "Fabian" überlegen. Ob man die entzündete Blinddarm-Narbe des Chefs für sich unterhaltsam findet oder nicht, ohne diese Episode würde der Anschluss zu Fabians Jobverlust fehlen. Und der "empörte Autobus" ist aus meiner Sicht eines der Highlights des Buches. Die Tilgung der sonstigen kleineren Anpassungen mag jetzt nicht für ein völlig neues Leseerlebnis sorgen, doch gewinnt man dadurch ein noch deutlicheres Bild vom "Kästner für Erwachsene" – ich hätte vorher nicht erwartet, in einem Buch des Autors von "Emil und die Detektive" das Wort "Gummiglied" zu lesen...
Ansonsten was Deaf sagt: ein grandioses Werk. |
Deaf
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30.09.2022 - 11:51 Uhr
Der Roman glänzt zudem auch mit seiner Komik, ist trotz der eher düsteren Grundstimmung und den traurigen Ereignissen wie Labudes Suizid immer wieder sehr witzig - gerade auch die zensierte Blinddarm-Episode.
Schade, dass Kästner dann "nur" noch Kinderbücher geschrieben hat. |
dieDorit
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30.09.2022 - 11:52 Uhr
Ich stimme da Marvin zu. Und ich habe zumindest die Blinddarm-Narbe als recht unterhaltsam empfunden. Und auch der empörte Autobus hatte es mir angetan, vor allem die Frau, die mit den Tränen kämpfte, weil die beiden Herren ihr vermutlich geliebtes Berlin und das Brandenburger Tor als Wahrzeichen der Stadt nicht wertzuschätzen wussten. |
Autotomate
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30.09.2022 - 11:56 Uhr
@myx:
Ich hab die Bücher nicht hier, aber das nachträglich erstellte 3. Kapitel* ist doch wesentlich gehaltvoller als die sicherlich ganz amüsante Blinddarmstory und hebt das Buch an dieser Stelle auf eine ganz andere Ebene. Gehört für mich zu den eindrücklichsten Abschnitten des Buches.
Einige andere Stellen, die mir - und anscheinend auch dem Lektor - in der Urfassung ziemlich doof vorkamen (wie eben diese Blödeleien im Bus), fehlen in der Fabian-Version. Die meisten sonstigen Veränderungen fand ich eher unerheblich.
Ansonsten schließe ich mich aber dem allgemeinen Tenor an: Tolles Buch.
* ich weiß, es ist im Anhang aufgeführt, aber die korrekte Rekapitulation hat mich tendenziell überfordert ;) |
myx
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30.09.2022 - 13:51 Uhr
@Autotomate:
Danke für die Erläuterung! Ich werde das nachträglich geschriebene und im Anhang aufgeführte Kapitel auf jeden Fall noch durchlesen, um nachvollziehen zu können, was du meinst.
Und ein Textvergleich wäre anhand der Liste der Varianten und Streichungen natürlich schon möglich, ich habe die Anmerkungen nur bei meiner Lektüre nicht berücksichtigt, sorry für die falsche Formulierung von mir.
Zum Humor:
Ja, die Komik ist wirklich ein sehr schöner Aspekt des Romans. Kästner bezeichnet Fabian ja als Moralisten. Aber dieser tritt nie als Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger und fehlender Selbstdistanz auf, sondern immer mit einem Augenzwinkern und dem Wissen um die Vertracktheit des Moralischen selbst.
Auf den Seiten 202 und 203 finden sich dazu einige hervorragende Formulierungen.
Da heisst es über Fabian: "Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen."
Und dann schliesst sich dieser wunderbare Abschnitt an:
"Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in der blossen Vorstellung infernalisch? War ein derart mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten?"
Etwas weiter unten dann die entscheidende (selbst-)kritische Wendung: "Hatte seine Utopie bloss regulative Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen?"
Ich denke, dass Moral als (bloss) regulative Idee und Humor sich wechselseitig gut vertragen. Und das ist eine jener tollen Einsichten, die mir "Der Gang vor die Hunde" vermittelt hat. |