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Jahrespoll 2007 – Die Rangliste der RedaktionKonsens und Überraschung, so dicht beieinander waren sie bei der demokratisch ermittelten Rangliste der Redaktion von Plattentests.de selten. Bei den Alben war es dieses Mal nicht der vielleicht erwartete Alleingang. Trotz eines tollen Albums konnten Radiohead nur den zweiten Platz buchen, denn Tocotronics lautstarke "Kapitulation" begeisterte uns sogar noch mehr. Bei unseren Songs des Jahres wurde es dann sogar richtig eng: Nur um Haaresbreite lag "No cars go" von Arcade Fire am Ende vor Modest Mouse und dem kauzigen Pärchen Scout Niblett und Will Oldham. Wir schließen daraus: 2007 war ein famoses Musikjahr. Aber lest einfach selbst! |
ALBUM DES JAHRES 2007 | SONG DES JAHRES 2007 | |
Wer schafft das schon? Das siebte Karrierealbum als echten, unbedingten Quantensprung? Ein textliches Konzept über Selbstaufgabe und Gehenlassen, wasserdicht entwickelt und sattelfest formuliert, sodass man es unmittelbar verführerisch und bis heute nicht ganz verständlich findet? Dazu musikalisch klarer, kräftiger, muskulöser und doch noch mysteriöser werden? Tocotronic schaffen. Das und einen. Deshalb stehen sie ja hier oben. |
Wer eine glitzernde Hymne voller Geigentriller, Freudenschreie und Molleuphorie beim zweiten Mal noch wunderbarer hinbekommt, darf - nein, muss! - ein altes Debüt-EP-Lieblingslied wie "No cars go" noch einmal raus hauen. Daher ritten Arcade Fire ein zweites Mal auf dem Rücken eines Akkordeons zurück unter den bonbonbunten Himmel ihrer Kindheit. "No cars go" ließ nicht nur das wunderbare "Neon bible" besonders hell leuchten, sondern gleich das ganze Jahr 2007 mit. |
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(Daniel Gerhardt) | (Oliver Ding) | |
Wenn jede Pore des Körpers pocht, jede Zelle unruhig zu rotieren scheint, wenn sich ein nicht lokalisierbares Etwas von der Mitte des Körpers aus langsam der Gliedmaßen bemächtigt und alle menschlichen Sinne, Gedanken und Reaktionen nur alleine diesen von außen eindringenden Klängen gehorchen, dann wird wieder jemand "In rainbows" aufgelegt haben. Und der Clou: Jeder konnte selbst bestimmen, wie viel Begeisterung er investieren wollte. |
Ein simples Geradeaus vom Schlagzeug, ein paar vorlaute Streicher und Bläser plus Johnny Marrs quirlige Gitarre. Mehr brauchten Modest Mouse nicht, um schon wieder so einen hyperventilierenden Ohrwurm loszulassen. Wer da nicht mithüpfte, war entweder festbetoniert oder von den Socken aufwärts tot. Wenn mich jemand irgendwann fragen sollte, wie Indiepop im Jahr 2007 klang, werde ich einfach "Dashboard" anwerfen. Und wieder den Flummi machen. |
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(Tobias Wallusch) | (Oliver Ding) | |
3. Scout Niblett (feat. Will Oldham) |
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Um im Buch der Bücher den Teufel im Detail zu beschwören, braucht es Sorgfalt und Auslegungskraft. Arcade Fire hatten beides. "Neon bible" präsentierte Lieder mit dicker Haut, die außen dröhnten und nach innen knickten. In deren Schaltkreisen sich Dramen abspielten und Pop-Historien zu Pop-Hysterien ausgeweidet wurden. Vor ihrem jüngsten Gericht war die andere Wange dann doch die der anderen. Die eigene hielt man nur zu gerne hin. |
Man muss sich das mal vorstellen: Da singen Scout Niblett und Bonnie 'Prince' Billy zusammen ein Lied, und das Beste daran sind die Pausen. Jedes Mal bevor sie sich gegenseitig "It could've killed me" versichern und den Kuss aus dem Titel meinen, halten sie kurz an, holen schnell Luft und treffen einen dann mit herunter gelassener Deckung. Super Timing, prima Dramatik - Pause: die Millisekunde des Musikjahres. |
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(Tobias Hinrichs) | (Daniel Gerhardt) | |
Die Kratzer und Schrammen auf der Seele, die Blutergüsse und Narben am Herzen - all den Kram, den man manchmal braucht, um sich an die eigene Existenz zu erinnern, lieferte dieses Jahr niemand verlässlicher als die wie von Gott weiß was befreit aufspielenden Okkervil River. Will Sheff und seine Männer rockten und fetzten, litten und lamentierten wie nie: stürmisch, roh, ungewaschen und letzthin brillant. |
Die Krankheit zerfrisst den Menschen, löst ihn kontinuierlich auf. Und dennoch ergibt er sich der Sucht. Der Sucht nach Zigaretten, der Sucht nach Trost in auswegloser Position. Tom Smith stimuliert das traurigste Bild des Jahres im Gewand seidiger Popmusik. Ein ergreifendes Seufzen, das ein Licht entflammt. Und ein Rennen gegen die Natürlichkeit. Alles, was zählt, ist dieser Moment. Der Letzte, der Verschlimmernde. Was bleibt, ist der Zug an dieser einen Zigarette. |
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(Daniel Gerhardt) | (Christian Preußer) | |
Menschen sterben, Menschen werden geboren. Der Lauf des Lebens, der das Individuum in seinen Grundfesten erschüttert. Die Editors garnierten die Schwere des Daseins mit musikalischer Leichtigkeit und komponierten zehn traurigschöne Hymnen. Auf das Leben und dessen Unausweichlichkeiten. Eine Symphonie für die Loslassenden. Ein kleines Popimperium, das die Welt in ihren Fugen kittet. Die Trauer trägt ein Editors-T-Shirt. |
Das Beste an Luftschlössern ist, dass man sie errichten kann, wo immer man möchte. Sie kosten kein Geld. Nur ein wenig Phantasie - beflügelt etwa vom majestätischsten Song des Jahres. "Military of the heart" löchert die Grenzen der Realität: "I walk on with my seven inch boots / I cross this planet in a day." Gute Hörer kommen in den Himmel, Naked Lunch kommen überall hin. |
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(Christian Preußer) | (Armin Linder) | |
Nimmt man seinen Titel beim Wort, dann ist dieses Album eher Rocky Balboa als Mike Tyson: kein bitterböser KO-Schläger, sondern Durchhalter und Aussitzer - mit Kinn aus Granit und unendlichen Nehmerqualitäten. Man konnte im Stehen sterben mit dieser unscheinbar introvertierten, abgekämpften, gemeinen Leberhaken-Platte. Wenn's sein musste, konnte man sich aber auch auf ihren Punch verlassen. |
Zerrende Gitarren, ein resignierter Bass und ein stures Schlagzeug. Bereits der Groove zersägt einem den Schädel auf wunderbar schmerzende Art. Und wenn Dirk Von Lowtzow dann erzählt, wie schön sich der eigene Untergang anfühlt, gleitet man mit der gleichen Empfindung abwärts. Wenn schon der Einstieg in ein Album den Mund wässrig macht und den Kopf gleichzeitig nicken und schwirren lässt, hat jemand etwas verdammt richtig gemacht. |
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(Daniel Gerhart) | (Oliver Ding) | |
Sie stemmten sich gegen alle Winde, tanzten auf den verwittertsten Klippen, sicherten sich mit Johnny Marrs Gitarrensaiten. Zwischen dicker Halsader und Flitter in den Blutbahnen: jede Episode ein Blockbuster, jede Werbepause ein Kleinkunstpreis. Hochkalorisch und höhenkollerisch, atemlos, dafür die Lungen voller Schwindelgefühle - Modest Mouse halt. Ließe sich mit den Schultern applaudieren, wir wären längst wundgezuckt. |
Winehouses Stimme kratzte wie eine Überdosis Weihrauch. Der Beat stakste voran wie ein betrunkener Schlägertrupp. Bläser und Glockenspiel setzten den Goldenen Schuss: "Rehab" fühlte und feierte seine Party mit jeder Faser - egal, wie viele Chauvis sich die passenden "Frauen und Drogen"-Schimpfwörter aus ihrem Flachmann wrangen. Hackevoll? Vielleicht. Selbstbewusst? Bestimmt! Wir feierten mit. Wenn auch nur auf Zitronendrops. |
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(Tobias Hinrichs) | (Tobias Hinrichs) | |
War "Silent alarm" ein sehniges Filet, naturbelassen und kräftig, so stecken die Songs auf "A weekend in the city" in einer opulenten Schichttorte. Gebettet in vielschichtige Arrangements und verhüllt von Effekten, fallen sie zwar mächtiger aus, sind nicht ganz so leicht bekömmlich, wecken aber die Lust, sie immer wieder zu genießen und jedes Mal aufs Neue andere Facetten zu entdecken. |
Mit dieser Kollision aus NDW-Synthi und höflichem Gitarrentourette fuhren Maximo Park direkt in die Wirbelsäule. Paul Smith schnappte in "Our velocity" so herrlich über, dass ich mir extra Anzug und Krawatte kaufen musste, um darin Purzelbäume zu schlagen. Und dann hinderte mich diese eckige Ausgeburt an Eingängigkeit sogar daran, mich angemessen in ihr neues Album zu verlieben. Das kam später. Ein charmanter Mauerstein auf dem Gaspedal. |
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(Ole Cordsen) | (Oliver Ding) | |
Ein Glückskeks, versteckt in einer treibenden Eisscholle, mit der Botschaft: Herzlichkeit ist Trumpf. Welchen Kahlschlag des Schicksals soll man fürchten, welche Ängste pflegen, wenn doch nur die Weakerthans niemals aufhören, solche wundersame Musik zu entwerfen? Songs zum Eisschollenschmelzen, auf dass ihre heldenhafte Botschaft auf ewig atmen kann. Es bleiben die Weakerthans, die man zum Treiben braucht. |
Ob in eisigen Höhen eines Hochgebirges, in luftigen Niederungen eines Festivalgeländes oder in wohltemperierten Hotelzimmern einer Metropole - Battles zeigen mit "Atlas" ein avantgardistisches Spiegelbild dieses Globusses. Postrock oder Kraut? Mathrock oder Electro? Hier werden wahrlich die richtigen Fragen unserer Zeit gestellt, die passende Antwort darauf gibt "Atlas". Auch ohne jede Mythologie ein massives Stück Musik. |
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(Christian Preußer) | (Carsten Rehbein) | |
10. Joanna Newsom |
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Der Hörer als Mitverschwörer gegen Gott und Vaterland - bei "Year zero" verschwammen Wirklichkeit und Wahn zu bedrückenden Kakophonien. Trent Reznor stapelte den Lärm links und den Politthriller rechts und hatte genug Melodien für die Mitte übrig, um sein dystopisches Konzept mit wunderbaren Songs zum Leben zu erwecken. Und, verdammt, wessen Realität ist das bitte? Der Überlebenskampf hat längst begonnen. |
Ein April in Köln. Erinnerungen an ein fabulös arrangiertes Konzertmärchen von Joanna Newsom. Ihren Harfensegen durchbricht sie mit spitzen Schreien. "Colleen" schießt die einseitig strahlenden Scheinwerfer aus und bringt die Hierachien durcheinander. Die Ys Street Band fügt sich zusammen und brilliert mit altertümlichem Instrumentarium. Oh Wunder, wie schön klingt diese ekstatische Fusion aus Tradition und Moderne? |
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(Dennis Drögemüller) | (Markus Wollmann) |
Ältere Redaktionspolls:
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Auswertung: Armin Linder
Koordination: Oliver Ding
Texte: Die Redaktion von Plattentests Online