Selten war sich die Redaktion so einig wie bei "Ys" von Joanna Newsom. Erstmals seit 31 Monaten wurde auf Plattentests.de wieder eine 10/10 vergeben - und alle teilen sie. Ansonsten sprechen die Ergebnisse für sich. Und geben unsere demokratisch gewählten Favoriten des Jahres wieder. Listen-Fans, das hier ist für Euch!
ALBUM DES JAHRES 2006 |
|
SONG DES JAHRES 2006 |
|
|
Es wird zu dieser Platte immer mehr Fragen als Antworten geben, deshalb nur
kurz, was wir sicher wissen: Joanna Newsom und ihre wertvollen Freunde
brachten mit dem komplexesten, eigenartigsten, beispiellosesten und
ergreifendsten Album der letzten Jahre eine Menge Menschen zusammen,
gegeneinander auf, um die Ecke und über den Damm - sie leisteten mehr, als
man sich bisher überhaupt unter Musik vorstellen konnte. |
Vom Alptraum zur Hymne: Das bedrohliche Loch, in das sie gerade taumelten, machten die Deftones einfach zur eigenen Existenzgrundlage. Und ließen statt Chino Morenos Bauch endlich wieder Riffs wachsen. So geriet der tonnenschwere 6/8-Groove von "Hole in the Earth" zum Befreiungsschlag. Mit apokalyptischem Moll, das wie Lava aus den Takten quoll. Und Moreno surfte auf dem Magma. "This is the end"? Nein. Sondern die Zerreißprobe des Jahres. |
(Daniel Gerhardt) |
(Oliver Ding) |
|
|
|
|
Wir grölen es in die Nacht hinaus, das Lied von Dir! Bierdunst umhüllt die Worte, die Faust den Mond. Heute nacht umarmen wir uns, beschwören die Freundschaft. Wir beschmieren die Wände mit Zitaten, schwitzen Liebe und erwachen ohne Kater. All das ist "Buchstaben über der Stadt", all das ist Tomte, einmal mehr. Gemartertes Herz, Ehrlichkeit aus allen Poren. Ein Album, das so viel wiegt wie eine Freundschaft. |
Eine Liebeserklärung an das Leben, an die Welt, an die Hoffnung und an die Liebe selbst. Bereichernd und beschwingt, frech und keck, und noch so viel mehr. Selten wurde die menschliche Existenz mehr bejaht. Die Liebe ist der Sinn aller Dinge, schreit uns Max Bernis entgegen. Recht hat er. Liebe im Holocaust? Ja! Und überall sonst. Herzen können selbst an den dunkelsten Orten zu Lichtspendern werden. Eine Erleuchtung. |
(Christian Preußer) |
(Konstantin Kasakov) |
|
|
|
|
Auch Vorschußlorbeeren wollen halt verdient werden. Da ist es gut, wenn man weiß, wie man’s macht, wohin man gehört und was als nächstes kommt. Bei TV On The Radio übersetzt sich das in: so oder anders, überall und nirgends, alles oder nichts. Ihr Zweitwerk ist ein Springbrunnen an Kreativität und hält nebenher, was es verspricht. Unaufgeregter kann man Spannung nicht inszenieren. Groß geworfen. |
Kopfnuss, K.O. Ein Rhythmus, der Dich wie ein Sturm von den Beinen bläst. Eine Melodie, die Dir das Gehirn in die Seile hängt. Eine Stimme, die wie Honig im Gehör zerfließt. Der Körper: wohin, woher? Pumpende Energie, implodierender Pop. Tunde Adebimpe verglüht im Strahle dieses Schatzes, der sich weder anbiedert, noch gut versteckt. "Wolf like me" – die Hymne der Getriebenen, Hermann Hesse in Rock. |
(Tobias Hinrichs) |
(Christian Preußer) |
|
|
|
|
Scharfkantige Crescendi stehen in Reih und Glied. Gleißende Riffs peitschen feinsten
Soundnebel auf. Beklemmung, Ehrfurcht, Anmut. Die überwältigende Schönheit von
Mogwais "Auto rock" und "Friend of the night" wühlt im Vorbeischleichen auf. Sie
müßten Steuern zahlen für diese Musik, die Schwarzbrenner aus Glasgow. Denn
"Mr. Beast" destilliert rohe Kraft und sanftes Streicheln in handliche
Abhängigkeitsportionen. Tapadh leibh! |
Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht! Unter dem roten Banner der Revolution ziehen die jugendlichen Massen durch die Straßen der Stadt und begehren nach Freiheit. Und das ist ihre Hymne. Ein Song mit Druck, Kraft und Aussage, den man schon beim allerersten Hören lauthals mitgrölen will, der einen umpolen und einer Gehirnwäsche unterziehen kann. No pasaran! |
(Oliver Ding) |
(Peter Schiffmann) |
|
|
|
|
Die Avantgarde
der Rockmusik lag flach. Eine verstimmte Gitarre, ein schepperndes Schlagzeug:
das Geheimnis des verruchtesten Albums des Jahres. Eine Explosion zwischen
Lagerfeuer und Sturzbach, verkochter Bohnensuppe und geklautem Kaviar. Und
eine Stimme, die das Mark aus den Knochen zieht, Deinen Schädel an Deine Mutter
verkauft. Die Geier müssen warten, bis sie diesen heißen Fraß serviert
bekommen. |
Die Kinder der Einöde sind frustriert. Keine Konzerte. Nicht einmal halbhübsche Mädels! Das einzige, was blüht, sind Pferdeäpfel. Und natürlich diese hochmelodische Ansporn-Single zur Brandstiftung von Thursday hier. Burn this city! 10-9-8 und ab ins Ohr. Wieder und wieder! 7-6-5 und ab in unser aller frusterfüllten Herzen.
Haß lass nach! 4-3-2-1 und ab in unsere Jahrecharts. Der Einöde sei Dank. |
(Christian Preußer) |
(Christoph Schwarze) |
|
|
|
|
Das Alkoholikeralbum des Jahres? Kam diesmal aus einer New Yorker Garage, in
der fünf baufällige Seelen ihre Gitarren im eigenen Saft schmorten und die
schrägen Eingebungen nur so von der Decke tropften. Das Ereignis der
Clap-Your-Hands-Platte war aber Bandboß Alec Ounsworth, der sang und nölte
und rumheulte, als putzte er sich die yellow country teeth mit Jägermeister.
Finden wir natürlich: su-per. |
Wieso fristet diese Band eigentlich immer noch ein Untergrunddasein? Album um Album spielen Sometree auf internationalem Niveau, "Hands and arrows" ist gar Weltklasse. Die fiese Baßlinie läßt jeden Lautsprecher an seine Grenzen stoßen, der Stimmeinsatz bringt Trommelfelle zum Zittern, wenig später brechen alle Dämme. 2006 war kein Song näher am Wasser gebaut. "I hold on and let go." Ein emotionales Großereignis. |
(Daniel Gerhardt) |
(Armin Linder) |
|
|
|
|
Kluge Menschen nehmen aus dem deutschen Sommer vor allem diese Platte hier
mit: Kante-Sänger Peter Thiessen hatte den Winterpelz drangelassen, seine
Band vergaß alle Kopflastigkeit, und plötzlich spielte man biestigen
Böse-Menschen-Rock. Vorsichtig tastend erst, garstig und zynisch im
Mittelteil, erhaben ausglühend am Ende. Daß Kante dann auch noch Jazz
können, ist eigentlich schon eine Frechheit. |
Songs, die einem anfangs um den Kopf schwirren wie lästige Fliegen, haben
selten gute Absichten. TV On The Radio aber wollten nur ihre Gitarren,
Tapemaschinen, Bläsersamples und sonstigen Spielzeuge auf Betriebstemperatur
bringen, bevor sie das erste Lied ihres bahnbrechenden zweiten Albums an
die Hand eines erlösend leichtlebigen Klaviers abgaben. Juckt und piekst
erst, klappt aber bald ganz von allein. |
(Daniel Gerhardt) |
(Daniel Gerhardt) |
|
|
|
|
Schlechte Witze sind einfach: "Treffen sich ein Deutscher, ein Italiener und ein Österreicher." Dann ein ellenlanger Mittelteil. Und eine schale Pointe. "...is a real boy" ist das Gegenstück. Humor in Rock, selten bittersüß, meist mit Verve, Biß und ultrahocherhitzten Punchlines, die eine Ewigkeit halten. Seit "...is a real boy" wachen manche Leute mitten in der Nacht auf, lachen fünf Minuten und schlafen dann weiter. Kennst Du den schon? |
Da ist ein Loch, das man nicht leugnen kann. Zäh tropft die Verzweiflung,
stickig verdampft die Erinnerung. Und doch bleibt die Hoffnung. Auf eine Welt,
getragen von Liebe. Tomte finden die Worte, erwecken eine Hommage an den Puls der
Zeit, singen den feinsinnigsten Text ihrer Kariere. Und schenken uns die
schönste Gitarrenmelodie des Jahres. Gegrüßt, gelitten und geheult: Sincerly,
Thees Uhlmann. |
(Armin Linder) |
(Christian Preußer) |
|
|
|
|
Und nun errechnet Thom Yorke also den Popsong. OK war der Computer im Radiohead-Universum ja sowieso schon lange, auf Yorkes Soloalbum stellt er schließlich die Quintessenz dar. Kühle Technik und strikte Rationalität verschlingen sich zur wärmenden Synthese. In Notenschrift erklingen geheime Formeln, elementarste Teilchen schwirren im harmonischen Dreiklang. Und am Ende? Nur die Musik. |
Eigentlich ist es purer Spott, den Neil Hannon über die einst so verwöhnte Dame im gewissen Alter ausschüttet. Aber dann hält das mitfühlende Picking den Atem an, die Zärtlichkeit seiner Stimme macht aus Häme Wehmut, und vermeintliche Ironie zerfließt in einem molligen Seufzer. Derlei professionelle Distanz geht ganz nah ans Herz. Hannon ist eben ein Gentleman. Und "A lady of a certain age" die bewegendste Charakterstudie des Jahres. |
(Tobias Wallusch) |
(Oliver Ding) |
|
|
|
|
Es war ein zartes Pflänzchen inmitten trüber Kargheit. Will Oldham
suchte Geborgenheit und fand die Seltsamkeiten Islands. Schauerliche
Geräusche, elfenhafte Echos, himmlische Melodien. Und ein entrücktes
Gefühl von Liebe und Zuneigung, das man nach anfänglichem Zieren
nur noch hemmungslos erwidern konnte. Wo diese Neurosen wuchern,
will man Landschaftsgärtner sein. Der Erfolg: "The letting go" wächst
und wächst und wächst. |
Noel Gallagher wäre stolz auf ihn. Thees Uhlmann, Ziehsohn im Geiste, hat sein Meisterstück geschafft und einen Song geschrieben, der mehr nach Oasis klingt als Oasis inzwischen selbst. Die Stimme? Eine Imitation par excellence. Die Komposition? Ein Traum. Dieser klitzekleine Bogen mitten in der Strophe? Das Sahnehäubchen. "Wir werden trauern in einer wortlosen Welt." Eine Stelle, die man nicht vergißt. D’you know what I mean? |
(Oliver Ding) |
(Armin Linder) |
ZUM JAHRESPOLL 2006
Ältere Redaktionspolls:
2005 |
2004 |
2003 |
2002
Auswertung und Koordination: Armin Linder
Texte: Die Redaktion von Plattentests Online |