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Special

Grenzkontrolle: überstanden
21. Pukkelpop-Festival, 17.-19. August 2006

Impressionen vom Pukkelpop 2006: Wetter-Shuffle. Die Frage, ob hier die Kühe oder die Festivalbesucher eingezäunt sind. Matsch. Die Zelt-Feuerwehr Vielleicht hat unser hartnäckiges Werben ja doch was genutzt. Nach den millionenfach gelesenen Plattentests.de-Berichten zum Pukkelpop 2004 und 2005 nämlich ist das Festival inzwischen fest in deutscher Hand. Die Einheimischen kann man an einer Hand abzählen. Nun gut, das war jetzt etwas übertrieben. Eigentlich sogar ziemlich übertrieben. Aber es lassen sich durchaus öfter als noch im Vorjahr irgendwelche Sprachfetzen aufschnappen, die nicht nur nach Deutsch mit Rachenkatarrh (Flämisch) oder Deutsch mit Schleimbeutelquetschung (Niederländisch) klingen. Sondern die tatsächlich deutsch sind. Und man kann auch öfter mal mit Landsmännern in Kontakt kommen. Die Vorzüge des Pukkelpop-Festivals scheinen sich inzwischen herumgesprochen zu haben. Nicht zuletzt unter den Engländern, von denen viele das Event als Ersatz für die ausgefallene Glastonbury-Sause 2006 nutzen und den Westeuropäern die britischen Bräuche (kein Bier vor 9... morgens) demonstrieren.

Das Pukkelpop wird internationaler. Und wer dafür Ursachen braucht oder auch nach Gründen sucht, um nächstes Jahr seinen Teil dazu beizutragen, der sei an den allgemeinen Teil des Berichts zum Pukkelpop-Festival 2004 und des Berichts zum Pukkelpop-Festival 2005 weiterverwiesen. Man will sich ja nun auch nicht den Mund fusselig reden und alles doppelt und dreifach erzählen.

Geändert wurde am großartigen Konzept wenig. Nun gut, die Getränkepreise wurden leicht angehoben (für die Statistiker: von 1,67 EUR auf 2,00 EUR pro 0,25l und damit um 20%). Und die achte Bühne "Château", die bislang vornehmlich den Singer/Songwritern vorbehalten war, wurde gegenüber dem Vorjahr wegrationalisiert. Bleiben noch sieben Stages: Die Hauptbühne und die Skate Stage, beide offen, für die bekanntesten Bands. Dazu die halboffenen Marquee und Club für die semi-bekannten. Boiler Room und Dancehall für gepflegten Umz-Umz von House bis Elektro. Und das etwas stiefmütterlich besuchte Wablief? mit lokalen Nachwuchsbands.

Auch der Himmel meint es 2006 nicht immer gut mit den Festivalbesuchern: Offenbar hat der Wettergott sich einen iPod-Shuffle gekauft und seine komplette Wettersammlung – von knallender Sonne bis zur Sintflut – draufgespielt, um diese im Zehn-Minuten-Zufallsprinzip abzuspielen. Regenjacke anziehen lohnt garantiert nicht, gleich braucht man eh schon wieder die Sonnenmilch.

Die paar Cent mehr fürs Bier, die fehlende Singer/Songweiter-Bühne und die paar Tropfen trüben aber nicht den rundum famosen Gesamteindruck von diesem Festival: Viele kleine Details von den freundlichen Securities über herumhüpfende Riesenkänguruhs bis hin zu sauberen Einzelkabinen-Duschen auf dem Campingplatz sorgen für ein Rundum-wohlfühl-fast-wie-zuhause-Empfinden. Die komplette Atmosphäre sucht in Deutschland ihresgleichen und findet höchstens noch im Haldern-Pop-Festival ihre Entsprechung. Dafür stehen beim Pukkelpop weit über 100 Bands zur Auswahl statt zwei Dutzend. Klar, daß da der Chronist weder Zeit noch Mühen noch fiese Blasen an den Zehen scheut, um so viel wie möglich zu genießen.

Donnerstag

So groß mit Hut: Finn Andrews (The Veils) Der Donnerstag steht wie erwartet ganz im Zeichen von Pete Doherty und seinen Babyshambles. Daß sie anders als im Vorjahr diesmal tatsächlich erscheinen und auftreten würden, erwartet nicht mal das halboffizielle Festivalprogrammheft: "Schafft es Pete Doherty dieses Jahr, seine Koffer zu packen, die Grenzkontrolle zu überstehen und in Kiewit zu landen?", wird da (in feinstem Niederländisch) bissig gefragt. Nein, natürlich nicht. Der ursprünglich für den frühen Abend geplanten Auftritt wird zunächst auf die Nachtstunden verlegt (wahrscheinlich Flieger verpaßt) und dann komplett geknickt (wahrscheinlich irgendwas halt). Das Resultat ist zwar kein Babyshambles-Auftritt, aber jede Menge Belustigung und Verwirrung für Besucher und Bands, die lustiges Slotlein-wechsel-Dich im Zeitplan spielen.

Koffer gepackt, Grenzkontrolle überstanden und tatsächlich zum Gelände gefunden haben: Minimalst-Songwriter José González, der lange Zeit alleine über seine Gitarre streichelt und später zwei Gesellen bekommt, die mit möglichst wenig Instrumenten möglichst wenig Geräusch machen. Und auch The Veils, die mit baßlastigem Sound dem Material ihres gewöhnungsbedürftigen neuen Albums "Nux vomica" Beine machen. Das Doherty-Syndrom hat allerdings auch Snow Patrol erwischt: Band zwar da, Equipment aber weg, verschwunden, irgendwo an der Grenze oder so. Und weil sie sich ohne Pomp und Pathos auf der Bühne ganz doll unwohl fühlen, spielen sie nur schnell 15 Minuten Akustikset runter, entschuldigen sich artig und setzen dann ihre Equipmentsuche fort. Vielleicht hätten sie lieber mal das von Mew geklaut, deren an sich lieblicher Prog-Pop krankt nämlich an akutem Größenwahn. Thom Yorke (Radiohead) und sein Close-Up-Spielchen mit der Leinwand Lieber schnell rüber zur anderen Bühne und zu We Are Scientists, bei denen einfach alles paßt. Die Hits kommen aus der Pistole geschossen, die Wasserbälle von der Bühne. Wow! Auch das mal knackige, mal ausufernde Set von My Morning Jacket gefällt. Der Abend kann beginnen.

Jener hält den wohl besten Anheizer bereit, den das Musikbiz zu bieten hat: Turbonegro. Zwar verirren sich – anders als in Deutschland – nur ein paar Denimjacken mit Turbojugend-Aufnäher in die ersten Reihen. Aber die Band schießt nicht nur Glitter und Luftballons ins Publikum, sondern auch Schmiß und Energie, ist in der Form ihres Lebens und war wohl selten mehr Rock'n'Roll als hier. Danach muß erstmal Kontrastprogramm sein: Tiga legt einen DJ-Auftritt im Boiler Room hin. Dort tummelt sich komplett anderes Publikum als auf den Rockbühnen und wird eine neue Platte fast mehr bejubelt als drüben der Überhit. Sollte man mal erlebt haben. Gilt natürlich auch für Radiohead, deren Spielzeit auf satte zwei Stunden aufgestockt wurde. Was soll man zu denen sonst noch sagen? Zur Setlist seien Fans hierher weiterverwiesen, wo sich auch der neue Song "All I need" und das selten gespielte "Nude" finden. Das Zusammenspiel aus Licht, Sound und einem unterkühlten Thom Yorke, der das Spiel mit der Leinwand sichtlich genießt, ist ohnehin kaum in Worte zu fassen. Eine routinierte Show, was für Radiohead-Verhältnisse immer noch reicht, um das versammelte Publikum zu überwältigen.

Freitag

Thom Woodhead (¡Forward, Russia!). Freunde nennen ihn Frühaufsteher sind gefragt: Ein Newcomer-Doppel bittet zum Tanz. ¡Forward, Russia! lassen das Tier im Manne raus. Sänger Tom Woodhead setzt ein eindrucksvolles Statement gegen Funkmikrophone ab, stranguliert sich doppelt und dreifach mit dem Kabel und intoniert die brandneuen Hits mit 101% Energie. Dazu sammelt Katie Nicholls an den Drums Bonuspunkte mit Meg-White-Gedächtnis-Gesichtsausdruck. Vielleicht der mitreißendste Auftritt des ganzen Wochenendes. Während des kurzen Päuschens langweilen Feeder mit zu viel von allem. Dann die Pipettes. Mit hübschen gepunkteten Kleidchen, mehr oder minder synchronen Bewegungen und zurückhaltender Backingband entfesseln die drei Ladies ein Sixties-Revival, das für helle Freude sorgt. Gefühlte 20 wunderbare Songs sind in 40 Minuten passé, danach wäre zwar noch Spielzeit übrig, aber kein Material mehr. Danach birgt der Zeitplan erst mal Leerlauf mit Bands wie Urban Dance Squad oder Less Than Jake. Und kehrt mit der bizarren Bee-Gees-Hommage der Scissor Sisters und der zurückhaltenden, leider von gerade mal 100 Besuchern verfolgten Show von Jeremy Enigk (Ex-Sunny-Day-Real-Estate, The Fire Theft) auf der für ihn viel zu großen Skate Stage zurück.

Pipettes: 100 Punkte! A propos Leerlauf: Auch der Strom gönnt sich ein Päuschen, mitten im Auftritt von The Spinto Band, ganze zehn Minuten lang. Während andere auf so was reichlich stinkig reagieren würden, haben die großen Kinder aus Delaware einen Heidenspaß dabei, die Zeit mit Bockspringen, Polonäse und flotten Tänzchen zu überbrücken. Das setzt sogar dem spaßigen musikalischen Teil die Krone auf. Es folgen solide Shows von Millencolin und den Raconteurs, die zwar alle Erwartungen erfüllen, aber keinesfalls übertreffen. Und der an sich über jeden Zweifel erhabenen Twilight Singers, die sie sogar unterbieten. Wenn schon "The Twilight Singers feat. Greg Dulli & Mark Lanegan" auf dem Plakat steht, sollte letzterer doch mehr leisten, als für zwei, drei Songs auf der Bühne aufzutauchen und gelangweilt ins Mikro zu schnarchen. Die maue Songauswahl tut ihr übriges und läßt den Band-Anhänger die kaum zu toppende Vorjahresshow herbeisehnen. Alles außer Musik: The Spinto Band beim Bockspringen (Bock nicht im Bild)

Ob Keane auf dem Pukkelpop-Festival nicht fehl am Platze sind, zweifelt sogar der Festivalführer an. Sie tun wenig, um das Gegenteil zu beweisen. Dafür zeigt der Freitag mit der überraschend geradlinigen Show von TV On The Radio und dem nächtlichen Finale von Massive Attack klar aufsteigende Tendenz. Bevor er auch schon wieder vorbei ist.

Samstag

Nachdem die Wüstenrocker mit dem Mega-Doppel aus Nick Oliveri And The Mondo Generator und den Eagles Of Death Metal voll auf ihre Kosten gekommen sind, begrüßen Midlake die Spätaufsteher. Mit wunderbarer Sonntagmorgen-Musik, bei der eigentlich nur der passende Sonntagmorgen zum optimalen Sonntagmorgen fehlt. Oder so.

Ralf Zacherl Cursive präsentieren sich wie ihr neues Album vielleicht etwas zu unentschlossen. Die folgenden Bands liefern endlich eine Antwort auf die Frage, wieso derart viele blutjunge Festivalbesucher mit Tageskarten das Gelände überschwemmt haben: Lostprophets untermauern mit einem Klingt-alles-irgendwie-gleich-aber-schon-sehr-gut-gemacht-Set ihren Erfolg. Die Herren HIM müssen anschließend – der Chronist ist nicht da – vor wohl ziemlich leeren Rängen spielen. Denn auf der anderen großen Bühne spielen sich zeitgleich unglaubliche Szenen ab.

Panic! At The Disco hat die jüngere Jugend zu ihren Helden erkoren. Oder sollten wir lieber sagen: zu ihren Göttern? Unzählige Mädchen, die die Pubertät bislang nur vom Hörensagen kennen, halten Schilder hoch, formen Herzchen aus ihren Zeigefingern und schmettern durch ihre Zahnspangen jede Zeile fehlerlos mit. Nur als die Band "Karma police" von Radiohead und "Tonight, tonight" von den Smashing Pumpkins covert, bleiben die Kehlen stumm. Plötzlich entkorkt Sänger Brendon Urie eine Halbliter-Wasserflasche, nimmt einen Schluck davon und wirft sie ins Publikum wirft. Riesiger Jubel brandet auf auf. "Super", denkt er sich, "aber das muß noch lauter gehen". Also fliegt eine 1,5-Liter-Flasche ins Publikum und sorgt bei diesem für hemmungslose Exstase. Objekt der Begierde: Brendon Urie (Panic! At The Disco) Bevor der Rockstar einen ganzen Kasten – oder gleich einen Tanklaster – voll Wasser ins Publikum werfen kann, ist zum Glück der Auftritt beendet. Und jeder der raren volljährigen Gäste ziemlich baff. Aber doch zumindest musikalisch überzeugt. Man kann sich halt die anderen Fans seiner Lieblingsbands nicht aussuchen.

Vielleicht fühlt sich der Wettermacher von der Wassernummer inspiriert. Vielleicht klemmt während den Arctic Monkeys auch seine Wetter-Shuffle-Taste, so daß er auf Option "Continue" umschalten muß und erst mal zwei Stunden alles einnäßt. Zum Glück steht Brian Molko von Placebo im Trockenen, wahrhaftig und auch sinnbildlich. Beuteltier Seine Band kann sich längst die Rosinen aus ihrer langen Geschichte herauspicken und mal eben 70 Minuten allerhöchstes Niveau bieten. Mit eigenen Songs. Das schafft Mylo zwar nicht ganz, beweist aber mit jeder Menge Elektro und einer Prise House in der Dancehall, wieso er dort als Headliner gebucht wurde. Vor allem zeigt er, was es bedeutet, eine Show zu bieten, obwohl vor einem doch nur Plattenteller stehen.

Die Sache mit der Show hingegen sollte die Abschlußband noch einmal überdenken: Daft Punk jedenfalls scheinen von diesem Wörtchen noch nie gehört zu haben. Ihre 70 Minuten, übrigens eines von nur einer Handvoll Konzerte 2006, sehen wie folgt aus: Zwei Kerle im Ganzkörper-Roboterdress stehen auf einem Podium unter einer kunterbunt blinkenden Lichtpyramide, machen nur die allernötigsten Bewegungen und tun so, als ob sie Platten auflegen. Ob sie das tatsächlich machen oder nur einen zuhause angefertigten Mix auf CD-R runterlaufen lassen, läßt sich nicht endgültig konstatieren. Ist auch egal. Ihre Un-Show wirkt so lustlos, daß sie schon wieder toll ist, und ihr DJ-Set (oder ihre Mix-CD) aus eigenen Songs reicht für übermütig zuckende Glieder überall. Ein würdiger Abschluß, ohne Zweifel, wenn auch einer der etwas anderen Art.

Damit wäre anderswo das Festival beendet, aber beim Pukkelpop sollte man lieber nicht zu früh das Gelände verlassen. "Watch the skies", rät der Bühnenansager nach der letzten Band. Und das lohnt sich: Ein Rudel Artisten führt in einer Kugel 20 Meter über dem Boden waghalsige Kunststückchen vor. Als alle Gliedmaßen verknotet sind, folgt ein Feuerwerk. Und zwischen Bumm Bumm und Peng Peng steht in bunten Farben am Himmel: "Ihr kommt doch nächstes Jahr wieder, oder?" Machen wir.

Links:
Pukkelpop: Offizielle Homepage
Pukkelpop 2006 (Diskussion in unserem Forum)
Pukkelpop 2005 (Festivalbericht)
Pukkelpop 2004 (Festivalbericht)

Text: Armin Linder
Fotos: Armin Linder (The Veils, Radiohead, ¡Forward, Russia!, The Pipettes, The Spinto Band, Känguruh) / Sebastian Boschert (Impressionen, Mondo Generator, Panic! At The Disco)