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Special

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Pukkelpop Festival, 18.-20. August 2004

Pukkelpop 2004

"Habt Ihr vielleicht einen Korkenzieher für diese Weinflasche?" Es könnte so einfach sein. Zumindest nach unseren, deutschen Maßstäben. Nach belgischen besteht die eingangs erwähnte Frage aus etwa halbminütigem Geplapper, bevor der nixverstehende Ausländer überhaupt zu Wort kommen darf. Und endlich erwähnen kann, kein Wort verstanden zu haben, sich das alles aber ganz schön drollig angehört hat. Hasselt-Kiewit, Schauplatz des Pukkelpop-Festivals, liegt gerade mal 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Und doch erlebt man einen mittelschweren Kulturschock, wenn man sich eine mit "Eetbonnen" bezahlte "Braatwoorst" zwischen die Zähne schiebt und sich selbige am "Kruiswoordraadsel" im überall herumliegenden "De Nieuwsblaad" ausbeißt. Bis hin zur Erkenntnis: Auch mit 80% Belgiern, 19,9% Holländern und 0,1% Deutschen läßt sich prima ein Festival zelebrieren.

Räumlich

Belgische Streiflichter

Auch wenn die Zuschauerzahl mit 40.000 Pukkelpoppenden noch im annehmbaren Bereich liegt, gilt das Prinzip: größer, schneller, weitläufiger! Die unglaubliche Zahl von acht Bühnen lockt. Wie man es geschafft hat, die so zu organisieren, daß es kaum zu klanglichen Überschneidungen kommt, man sich auf dem überraschend kleinen Gelände nicht auf die Füße tritt und innerhalb weniger Minuten von einem hintersten Winkel zum anderen hintersten gelangt, bleibt das Geheimnis der Organisatoren. Drei der Bühnen sind elektronischer Musik vorbehalten und stellen damit eine Art Sub-Festival dar. Dennoch buhlen von mittags bis spät in die Nacht jeweils vier Acts parallel um Aufmerksamkeit. Da wird die Wahl zur Qual.

Organisatorisch

Zum Wohle der Allgemeinheit will man den Machern von Rock am Ring, Hurricane, Berlinova und Wiesiealleheißen ein Wochenende beim Pukkelpop schenken. Und einen ganz dicken Notizblock. Denn es gibt so viele Scheibchen, die sich die hiesige Festivalkultur von den Belgischen Nachbarn abschneiden können. Da wäre die unglaubliche Tatsache, daß weder bei der An- noch bei der Abreise überhaupt irgendwo Staus auszumachen sind. Auch am Einlaß gibt es nie Schlangen. Da wäre der Sound, der jederzeit vor jeder Bühne brillant ist und im Festivalkontext fast nicht besser geht. Da wäre das so einfache wie geniale Konzept, für Becher keinen Pfand zu verlangen, dafür aber für 50 intakte, leere Exemplare eine Luftmatratze auszuloben und damit die Festivalbesucher zu gierigen Müllsammlern zu machen. Und vor allem steht an wirklich jeder Ecke ein Mensch im "Crew"-T-Shirt, der irgendeine Zuständigkeit hat. Gemunkelt wird von 2.500 Helfern für 40.000 Besucher. Man mag das überorganisiert nennen. Oder aber einen tollen Service.

Bitte festhalten: Es gibt einen Putzdienst, der jede der rund 100 warmen Campingplatzduschen nach jeder Benutzung reinigt. Es gibt ein rund um die Uhr von je fünf Helfern bewachtes und gewartetes Klopapierabrollzelt (!) vor jedem (!) Dixi-Park. Es gibt Mülleinsammler en masse. Es gibt am Abreisetag einen Feuerwehrmann, der übers Gelände späht und Müllverbrennungen quasi löscht, bevor sie überhaupt angefacht werden. Und es gibt Menschen, die die ganze Nacht den Campingplatz nach strengstens verbotenen Glasflaschen absuchen und auch nicht davor halt machen, pflichtbewußt und kompromißlos die halbvolle Martini-Flasche des Chronisten zu vernichten.

Da kratzt man sich als Deutscher doch an der Stirn und fragt: Wieso ist so etwas bei uns nicht möglich? Obwohl der Ticketpreis von 105€ für drei Tage incl. Camping nicht über unseren Maßstäben liegt. Obwohl die Catering-Preise sogar noch knapp darunter liegen und man bei 1,70 EUR für unverschämt leckeres "Maes"-Bier nicht meckern kann. Die Antwort ist den Helfern anzusehen: Man hat nur für die wichtigsten Aufgaben breitschultrige und teure Security-Dienste engangiert. Alle anderen Jobs erledigen bierbäuchige Ehrenamtliche, Pfadfinder oder der Teen-Punk von nebenan. Und es funktioniert. Aber mal ehrlich: Zum Bändchen-Kontrollieren braucht es keinen Zwei-Meter-Gorilla. Habt Ihr gehört, liebe deutschen Organisatoren?

Melissa Auf Der Maur

Besonders

Man will es ungern zugeben, aber: Belgier sind so anders als wir gar nicht. Nur ist eben alles ein wenig anders, wie das "o" in der Bratwurst. So wird auf dem Campingplatz nicht aus voller Kehle "Helga" gebrüllt, sondern mit einem herzhaften "Hura" die ganze Nacht lang Sehnsucht nach einer käuflichen jungen Dame proklamiert. Dabei weiß ein Großteil der Besucher vermutlich nicht einmal, wie Sex geht. Das Pukkelpop nutzen viele Belgier, um ihre Sommerferien mit einem Höhepunkt zu beenden. Deshalb die merkwürdige Dauer von Donnerstag bis Samstag. Und deshalb der hohe Anteil von Dreikäsehochs, Colatrinkern und (natürlich trotzdem wie fast alle Landsmänner kiffenden) Zahnspangenträgern im Publikum.

Donnerstag

Der Vortag steht noch einigen ins Gesicht geschrieben. Das war kein Regen, das war kein Wolkenguß, das war eine Sintflut. Anders als der dauermatschige, im Verlauf der trockenen Folgetage aber trocknende Campingplatz hat das direkt nebenan gelegene Festivalgelände alles gut überstanden. Und auch Colour Of Fire, die erste Band auf dem engen Chronisten-Zeitplan, sehen aus wie aus dem Ei gepellt. Daß Nirvana vorbei ist, hat ihnen zwar noch keiner gesagt. Aber daß sie ihre feinen Songs druckvoll vortragen doch sicherlich. Die letzten Songs von Keane genügen, um sich von deren sympathischer Harmlosigkeit zu überzeugen. Und Within Temptation beweisen mal wieder, daß sie außer ordentlichen Songs gar nichts können. Aber das Auge hört nun mal mit und will weder Feuerwerke noch Engelsstatuen auf der Bühne.

Justin Hawkins (The Darkness)

Dann das Highlight des Tages. The Killers wird man wohl zum letzten Mal auf einer derart kleinen Bühne zu sehen bekommen. Wie die jungen Smiths croonen die Herren über die Bühne, und auch wenn die Texte eher blödsinnig denn politisch sind, wird klar: Die hier sind das Next Big Thing.

Mit Velvet Revolver sinkt das Niveau dann unter Null. Scott Weiland sieht mit Mütze nicht nur aus wie Klaus Meine, sondern klingt auch so. Da helfen die Stone-Temple Pilots-Songs nichts. Erstmal die Ohren reinigen mit dem Kelis-Auftritt in der "Dancehall". Am Ende entschädigt der Hit-Hattrick aus "Caught out there", "Trick me" und "Milkshake" (inclusive vorhersehbarer Strip-Einlage) für so manche Länge. Wann kriegt man schon einen solchen Act bei einem Festival geboten? Und direkt dahinter die ulkigen Country-Rocker The Zutons serviert, bei denen man kaum merkt, wie es regnet? Genug der Eindrücke. Es gibt noch einiges trockenzulegen.

Freitag

Großkampftag. Die erste Frage des Tages: Wie schlagen sich die Beatsteaks im Ausland? Bestens. Auch um die Mittagszeit und auf einer kleineren Bühne versprühen die Herren ihren Charme. Front-Arnim kraxelt übers Gerüst, tätschelt dem Security die Frisur und erfreut nicht nur damit das ziemlich spärliche Publikum. Blendend aufgelegt ist auch Melissa Auf Der Maur. Nicht nur optisch, auch stimmlich macht sie einiges her und fühlt sich inzwischen in ihrer Rolle als Frontfrau wohl. Die exzentrischen Schotten von Elbow belagern tatsächlich mit einem Rudel Streicherinnen die Bühne. Und machen die schönen Songs damit nur noch schöner. Kontrastprogramm bietet dann Mike Skinner alias The Streets, der allerdings ausgefeilt wie auf Platte deutlich souveräner wirkt als improvisierend auf der Bühne.

Tom Barman (dEUS), ausnahmsweise verkleidet als Bill Murray

Dann ist erstmal alles andere vergessen. Die unübertrefflichen The Darkness betreten die Bühne. Auch wenn die Erwartungen nicht ganz erfüllt werden und die ständigen Sing- und Kreischspielchen nerven: Eine solche Rockshow inclusive Kostümwechsel findet man landauf, landab nur noch bei einer Band. Danach wird es noch enger, ja richtig eng in den ersten Reihen: dEUS geben sich zu ihrem ersten Heimspiel seit langem die Ehre. Mit dabei sind natürlich "Instant street", "Suds & soda" und "Roses", aber auch mehrere neue Songs von dem für Anfang 2005 angekündigten Album. Leider ist noch nicht wirklich ein Übersong auszumachen. Aber die erste Studioplatte seit sechs Jahren verspricht ziemlich rockig zu werden, wie nicht nur die designierte Single "If you don't get what you want" beweist.

Danach erstmal Pause, Luft holen für das unerwartete, aber unangefochtene Highlight des ganzen Wochenendes: der Auftritt der Twilight Singers, nachts um eins. Unglaublich, wieviel Soul noch immer in Greg Dulli liegt. Und wieviel Kraft der nur scheinbar lustlos wirkende Mann zwischen Bier und Zigarette in seine Stimme legt. Plötzlich steht ein unglaublich angepißt wirkender zweiter Sänger mit Wollmütze auf der Bühne. Ladies and gentleman, Mister Mark Lanegan. Einen Song lang nur. Weiter geht es mit einem zerlegten "The reaper"-Cover, bevor das alte Afghan-Whigs-Epos "Faded" den krönenden, unübertrefflichen Abschluß bietet. Puh.

Samstag

Greg Dulli (The Twilight Singers) und Mark Lanegan

Durch ein kleines Malheur beim Uhrablesen findet sich der Chronist früher als geplant auf dem Gelände wieder. Aber Flogging Molly versprühen live durchaus Freude, anders als auf den etwas altbacken wirkenden Platten. Franz Ferdinand kennen die Uhr danach ganz genau, spulen sie doch ein umjubeltes Set mit allen Hits ab. Und das sind inzwischen schon jede Menge. Es folgt wieder ein Heimspiel: Soulwax. Die allerdings können die Schwächen ihrer neuen Platte auch live nicht überspielen, zumal man Stephen Dewaele am liebsten einen Gesangslehrer empfehlen möchte.

Danach wird es voll auf der "Marquee"-Bühne. Lambchop sind mit schlappen 13 Musikanten angereist. Und genau das richtige zum wohligen Relaxen. Der Weg zu 50 Cent hingegen ist reichlich umsonst. Denn für die, die sowas toll finden, bietet der Kerl sicher einen tollen Auftritt. Aber nur für die. Endspurt. Das Archive-Set, unpassenderweise kurzfristig in die "Dancehall" verlegt, zieht sich über eine Stunde lang wie Kaugummi, bevor das grandiose "Again" alles wieder wett macht.Panoramablick auf Franz Ferdinand

Als letzte Band hätte das Festival sicher einen würdigeren und motivierteren Act verdient gehabt als die White Stripes in dieser Laune. Nein, das ist kein Dienst am Kunden, das ist Verweigerung. Eine Stunde lang kämpfen sich die beiden durch die sperrigsten Songs ihres Katalogs und vertreiben die Besucher in Strömen. Das emotionsarme Finale "Seven nation army" kriegen nur noch wenige mit. Immerhin sorgt die Artisten-Show auf der Hauptbühne anschließend noch für ein zufriedenes Zubettgehen.

Insgesamt

Es sei hier gerne noch einmal wiederholt: 60 Kilometer sind es von der Grenze zum Pukkelpop-Festival, 70 von Aachen. Und in unter zwei Stunden erreicht man quasi aus ganz NRW den Ort des Geschehens. Da ist es durchaus traurig, daß der Chronist am ganzen Wochenende nur drei deutsche Gruppen ausmachen kann, die die Vorzüge des unseren Festivals in vielen Dingen überlegenen Pukkelpop nutzen. Und so viele Bands zu sehen, die 2004 einen kompletten Bogen um Deutschland machen oder maximal die Metropolen beehren. Die dann eben nicht in der Mittagssonne verheizt werden, sondern ein 60-Minuten-Set zu abendlicher Stunde spielen dürfen. Ob dieser Bericht an der Deutschen-Quote etwas ändert? Zu hoffen ist es. Wir sehen uns beim Pukkelpop 2005. Achtet auf die "Helga"-Rufe.

Links:
Pukkelpop
Pukkelpop 2004 (Diskussion in unserem Forum)

Text: Armin Linder
Fotos: Armin Linder