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Special

"Auf diesen Rock'n'Roll-Mythos hab ich keinen Bock"
Interview mit Marr

Jan Elbeshausen

Einen Tag nach ihrem umjubelten Auftritt beim Immergut-Festival sind Marr immer noch vor Ort, um die angenehme Stimmung zu genießen. Auf einer sonnendurchfluteten Waldlichtung hinter den VIP-Toiletten haben sich Sänger Jan Elbeshausen und Schlagzeuger Andre Frahm eingefunden, um ein gemütliches Interview zu führen. Die Fragen soll Lukas Heinser stellen. Was keiner ahnen kann: Die drei werden im Laufe der Zeit aufeinander einschlagen - um sich die aufdringlichen Mücken gegenseitig vom Hals zu halten.

Von Mike Patton, der Euch vor einiger Zeit einmal gehört hat, stammt ja angeblich das Zitat: 'The music is okay, but the singer ruins it!' Wie geht man mit der Einschätzung eines solchen Mannes um?

Jan: "Das nimmt man am besten ziemlich locker und überlegt sich dann mal: Der hat ein Demo von uns abbekommen und hat sich das angehört. Es hat ihm halt nicht gefallen. Mehr denke ich darüber gar nicht nach. Der hat bestimmt auch nicht groß drüber nachgedacht, nur daß es ihm in dem Moment halt nicht gefallen hat. Und das ist ja auch nicht das einzige Feedback, das man bekommt. Eigentlich bekommen wir auf die Platte oder auch die EP davor doch durchaus 'ne ganze Menge positive Resonanz. Und das zählt für mich erst mal mehr. Leute aus dem engeren Kreis, die man irgendwo auch einschätzen kann, setzen sich da auch mehr mit auseinander. Das ist eigentlich auch Kritik, die ich mir eher anhöre als ein Spontanzitat von Mike Patton, der sich wahrscheinlich 'nen Scheißdreck um unsere Band schert. Mich kratzt das nicht weiter."

Wenn man die Besprechungen zu Eurem Album "Express and take shape" gelesen hat, hat man gemerkt, daß man häufig nicht wußte, in welchen musikalischen Bereich man Euch einordnen sollte. Wie würdet Ihr Euch so einordnen?

Andre: "Im weitesten Sinne natürlich Rockmusik. Und natürlich suchen Leute irgendwie immer Schubladen, damit sie das dann ordentlich wegsortieren können. Aber ich hab mir jetzt keine bestimmte Schublade oder irgendeine bestimmte Definition überlegt. Ich glaube, keiner von uns. Wir machen einfach das, was bei uns aus verschiedenen Gründen und aus verschiedenen Richtungen und Einflüssen zusammenkommt. Ganz oft hören wir auch das blöde Wort 'Emocore', womit wir natürlich überhaupt nix am Hut haben. Ich denke manchmal, die Leute sollten sich einfach mal in Ruhe hinsetzen und allgemein Musik wieder intensiver hören. Das geht bei anderen Platten sicherlich einfacher, weil man sie einfach in irgendeine Ecke oder in irgendeine Schublade einordnen kann. Das ist bei uns vielleicht 'n Tick anders, wobei ich auch nicht glaube, daß wir da nun irgendwie einen neuen Stil irgendwo erfunden haben oder so. Das bilden wir uns auch sicherlich nicht ein. Was Schubladendenken angeht, würde ich halt sagen, daß es 'ne sehr anständige Rockplatte ist, die wir da gemacht haben. Punkt."

Jan: "Für mich ist es irgendwie auch so: Die Musik, die wir machen, die muß sein. Die ist da, weil sie da sein muß und weil sie da sein will. Wir sind keine Konzeptband. Unsere Musik entsteht, weil wir halt Bock drauf haben, das zu machen. Und da kommen Sachen raus, die dann irgendwie wie Marr klingen. Wir haben halt Bock, zusammen Musik zu machen. Und das, was dabei rauskommt, das kickt uns irgendwie und freut uns und gibt uns ein gutes Gefühl. Es setzt irgendwie Energie frei, die solche Kanäle braucht. So würde ich das erst mal von unserer Herangehensweise her bewerten."

Wo habt Ihr Eure musikalischen Vorbilder?

MarrJan: "Ich glaube, eigentlich überall. Ich persönlich höre halt auch viel Popmusik aus England und aus Amerika. Ich hör auch Hamburger-Schule-Sachen wie Blumfeld, aber auch Elektro-Zeugs. Ich bin daran interessiert, möglichst vielfältige Sachen zu hören. Mich interessiert im Grunde alles. Danach gehe ich eigentlich dann auch, wenn ich selber Musik mache. Und ich glaube, das geht den meisten bei uns so."

Andre: "Also ich habe, da ich ja der Schlagzeuger bin, schon Bands oder bestimmte Schlagzeuger, die ich irgendwie toll finde, weil sie auch ihren eigenen Stil haben."

Wer ist das?

Andre: "Das ist zum Beispiel Jason, der Schlagzeuger von den Weakerthans, oder Haakon Gebhardt von Motorpsycho. Das sind halt zwei so Typen, die sind auch einfach Typen. Aber diese Bands bestehen aus Persönlichkeiten, die ich auch sehr sympathisch finde. Und musikalische Vorbilder gibt's halt aus allen möglichen Richtungen. Ich habe früher auch viel so Jazz-Kram gemacht, als ich angefangen habe, Schlagzeug zu lernen. Da gibt's dann halt auch Musiker, die ich gut finde."

Bei 'Marr' denkt man ja vielleicht erst mal so an Johnny Marr, den Gitarristen von The Smiths. War das Absicht, hängt das irgendwie zusammen, oder war das eher Zufall?

Jan: "Also, ich liebe The Smiths. Das ist immer so phasenweise, dann hört man sie 'ne Zeitlang ganz viel. Dann hört man sie vielleicht auch mal nicht mehr so doll, aber die Songs sind halt gut. Das ist für mich auch eine Band, die irgendwie immer da ist, wie auch The Cure oder so. Da pickt man sich halt überall die Sachen raus. Bei The Smiths war das eher so Zufall, daß halt Johnny Marr da noch mit reinkam. Weil der Name Marr eigentlich daher kam, daß mir 'ne Freundin Collagen von einem Kunstprojekt, das sie in Leipzig gemacht hat, zugeschickt hat. Da hat sie Bilder und Schaltkreisskizzen und so Zeugs gemalt und an Häuserwände geklebt. Und dieses Projekt hieß halt 'Marr'. Und da überlegten wir gerade mit der Band 'Okay, wie nennen wir das?', und dann fiel mir das halt ins Auge. Ich dachte, 'Klingt irgendwie gut.' Es ist jetzt auch nicht so, daß es Dir gleich vorgibt, was Du von der Band zu halten hast. Das kommt glaub ich auch unserem allgemeinen Ansatz an die Band oder ans Musikmachen nahe. Der Name ist irgendwie offen. Johnny Marr ist zwar immer als Referenz da, hat aber nicht wirklich was damit zu tun, außer daß The Smiths halt 'ne klasse Band sind. Seine Band, die er alleine macht, finde ich aber leider sturzlangweilig."

Hast Du das neue Morrissey-Album schon gehört?

Jan: "Ich hab's einmal gehört und ich muß sagen, daß ich Platten auch ein bißchen öfter hören muß. Aber mein erstes Hörerlebnis war auch: total langweilig. Ich hab gedacht, 'Mann, das klingt aber richtig alt!' Die Gitarren und alles, das ist so ultraklassisch arrangiert. Das habe ich von Morrissey schon auf diversen Platten gehört, aber da liegen auch zehn Jahre irgendwie dazwischen. Und wenn der jetzt heutzutage noch mal mit so 'ner Platte aufkreuzt, da weiß ich echt nicht, ob ich die brauche. Textlich find ich, macht er eigentlich 'nen ziemlich guten Job, aber damit hab ich mich noch nicht näher beschäftigt. Also, die Platte interessiert mich erst mal nicht so richtig."

Andre, wie ist es bei Dir mit The Smiths?

Andre FahrAndre: "Ich hab auch diese Phasen, wo ich denk 'Wow, da leg ich gern noch mal die Platten auf.' Ich bin da früher schon diverse Male auf irgendwelchen Tanzflächen zu abgehottet. (lacht) Das mit dem Namen ist uns auch erst ein, zwei Tage später so richtig bewußt geworden, als wir dann auch dachten: 'Verdammt, das ist nahe dran an Johnny Marr.' Aber wir haben's dann durchgezogen, auch aus den Gründen, die Jan gerade angeführt hat. Der Name paßt einfach. Und insofern haben wir gedacht, daß wir das jetzt einfach mal machen. Bisher haben wir auch noch keinen Streß mit dem Management von Johnny Marr."

Jan: "Ich hab letztens überlegt, wenn man sich irgendwelche Events vorstellen könnte, die im Rahmen des Möglichen wären, aber auch so 'ne Besonderheit. Wo ich, glaube ich, ausflippen würde, wenn es echt noch mal irgendwie ein Smiths-Reunion-Konzert geben würde. Das wäre ziemlich großartig, und ich könnte 'ne Menge der Stücke Zeile für Zeile mitsingen. Das ist zwar total absurd, weil die sich ja total verkracht haben mit Anwälten und Streitigkeiten und so. Aber das wäre schon geil. Gerade die früheren Platten auch ..."

Aber so müssen große Bands doch auch enden: Auseinanderfliegen im großen Streit. Glaubst Du nicht, daß es, wenn man wie die Rolling Stones immer weitermacht, irgendwann langweilig wird für die echten Fans?

Jan: "Ich als Musikmachender würde mir wünschen, daß es nicht so sein muß. Gut, vielleicht bist Du irgendwann müde, aber wenn Du das nicht bist, dann ist auf einmal Deine Band weg. Wo Du alles reingesteckt hast, was Dir total am Herzen lag, was irgendwie Dein Lebensinhalt ist, das ist auf einmal weg. Und dann mußt Du Dir überlegen, was machst Du denn dann jetzt? Dann kannst Du 'ne neue Band gründen wie Johnny Marr, und dann ist es vielleicht scheiße. Von daher find ich's durchaus 'ne schöne Vorstellung, aber auch unter dem Aspekt, daß man sich auch irgendwie versucht, weiterzuentwickeln. Für sich selbst versucht, die Musik spannend zu halten."

Andre: "Es kommt immer drauf an. Es gibt schon für viele Bands auch die Berechtigung, wirklich über Jahre hinweg zu existieren, weil sich das, was die musikalisch auf die Beine stellen, auch in andere Richtungen immer weiterentwickelt. Aber ich glaube nicht, daß man, um als groß zu gelten, jetzt mit Pauken und Trompeten auseinander fliegen muß."

Jan: "Ich finde nicht, daß Marr jetzt explodieren muß: Dennis stürzt ab und raubt 'ne Bank aus, weil er sich Drogen beschaffen muß; Andre hat auch irgendwas am Hals, weil er Steuern hinterzogen hat; und dann haben wir uns noch verkracht, weil ich irgendwie finde, daß Olli live zu viele Fehler macht oder umgekehrt. (lacht) Das muß nicht sein. Jetzt ist man ja irgendwie noch am Anfang. Die Energie muß raus, und Du willst halt noch Vollgas geben. Du willst halt noch krachen und powern. Irgendwann kommt dann aber auch der Punkt, wo Du souveräner bist. An diesen Punkt Musik zu machen, möchte ich auch noch gerne erleben und gucken, wie das dann klingt. Das ist schon alles von mir aus auch längerfristig geplant. Und auf diesen Rock'n'Roll-Mythos hab ich irgendwie nicht so Bock drauf. Ich glaube nicht, daß man sich ganz zerfetzen muß, um irgendwie überzeugend zu wirken."

Andre: "Bei den Stones weiß man, daß das früher mal 'ne wirklich hervorragende Band war. Aber gerade merkt man halt, daß die musikalisch keine neuen Ansätze mehr finden. Also zumindest keine, die mich überzeugen."

Marr Jan: "Das ist natürlich wichtig. Wenn eine Band anfängt, sich zu wiederholen, dann braucht sie wirklich niemand mehr. Und dann wünscht man sich im Grunde, daß die das auch so sehen und sich etwas neues suchen. Es kommt jetzt ein neues The-Cure-Album raus. Ich fand auch, die Bloodflowers war superschön, aber auf der anderen Seite auch nicht besonders innovativ, weil das für mich ein Aufguß von deren größten Platten war: 'Disintigration' oder 'Pornography'."

Ihr seid beim Grand Hotel die erste deutsche Band, die Englisch gesungen hat. Seht Ihr da noch einen Unterschied zwischen den Sprachen oder geht es Euch vorrangig um die Musik?

Jan: "Also, ich hatte schon eher einen internationaleren Ansatz. Bei uns hat es sich halt einfach so ergeben, dass wir dachten: 'Okay, das ist stimmig, das mit englischem Gesang zu machen.' Ich schreibe englische Texte, und ich fühl mich damit auch wohl. Ich mag das hören und mag, wie das klingt und wie man damit umgehen kann."

Ist bei Euch zuerst die Musik da und dann der Text, oder wie fangt Ihr im Probenraum an?

Andre: "Es ist eigentlich so, daß Dennis und Jan halt immer so Grundideen haben und wir dann daraufhin zusammenkommen und die Idee als Basis haben, um daraus dann die Songs zu machen. Wir haben bisher noch keinen Song gemacht, wo der Text das tragende Element oder der Impulsgeber war."

Jan: "Stimme ist bei uns im Grunde auch ein fünftes Instrument, der Text ist für mich schon gleichbedeutend mit der Musik. Ich könnte nicht überzeugend singen, wenn ich irgendwas singen sollte, was mir nichts bedeutet. Ab und zu ist es halt schon so, daß ich, wenn ich mir irgendwas auf der Gitarre ausdenke, schon Ideen habe, wie der Gesang dazu sein könnte, und dann damit in den Proberaum gehe."

Jan, Du hast noch ein elektronisches Seitenprojekt: The Dance Inc. Ist das eigentlich so, daß jeder deutsche Musiker in zwei Bands sein muß? Mir fallen ganz viele Leute ein, die in zwei Bands sind. Das ist bei Euch ja jetzt auch so mit Dennis und Olli, die ja noch bei Tomte spielen. Ist das normal oder ist das eher ein Zufall?

Jan: "Ich glaube, das ist normal, aber auch nicht nur in Deutschland. Du kannst wahrscheinlich weltweit davon ausgehen, daß Leute mehrere Stile gerne hören, und wenn sie dann Musik machen, das machen möchten. Oder daß die eine Band halt nicht ausreicht oder man Bock hat, vielfältig zu sein. So ist es bei uns auch. Wenn bei Marr grad weniger läuft, weil die anderen mit Olli Schulz oder Tomte unterwegs sind, dann mach ich halt mehr mit Dance Inc. Aber im Idealfall ergänzt sich das und unterstützt sich gegenseitig auch, weil Du Dich konstant mit unterschiedlichen Ansätzen und unterschiedlichen Leuten auseinandersetzt. Dadurch läufst Du nicht in Gefahr, schnell eingleisig zu werden."

Broken Social Scene - You forgot it in people

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Beck - Sea change

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Miles Davis - Kind of blue

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Depeche Mode - The singles 86-98

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The Mars Volta - De-loused in the comatorium

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Zum Schluß wollen wir von den Künstlern immer ihre fünf Lieblingsalben wissen. Was wäre das so bei Euch?

Andre: "Die neue Broken Social Scene schon mal, die gefällt mir ausgesprochen gut. Dann die letzte Beck-Platte, die 'Sea change', find ich grandios. Dann find ich ganz toll von Miles Davis - 'Kind of blue'."

Jan: "Da hast Du jetzt natürlich 'ne Frage gestellt, da hat man hinterher 'ne schlaflose Nacht, weil einem das dann hinterher erst einfällt, wenn man in Ruhe irgendwo liegt und noch mal drüber nachdenkt. Ich würde aber auf jeden Fall schon mal sagen, daß einer der stärksten Konzerteindrücke, den ich gehabt habe, Depeche Mode auf der 'Singles'-Tour war: unglaublich, super. Und dann würde ich noch sagen, finde ich aktuell auch The Mars Volta super. Auch gerade diese beiden Typen, die imponieren mir schon ziemlich. Die Art und Weise, wie sie auftreten und was die für Musik machen, das ist schon wirklich kraß. Und dann natürlich noch Radiohead und Beck und ..."

Andre: "Radiohead natürlich 'n bißchen weiter vorne auch bei mir. Ganz vergessen."

Text: Lukas Heinser
Bandfoto: Pressefreigabe
Livefotos:
Martina Drignat

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Rezensionen:
Marr - Express and take shape