Wenn es in während der letzten Jahre überhaupt so etwas wie eine nationale Independent-Szene gab, waren Slut neben The Notwist und Blackmail sicherlich ihre heimlichen Helden. Bevor nun am 05.03.2001 mit "Lookbook" (Rezension auf diesen Seiten ab nächster Woche!) das dritte Album der Band erscheint, reisten Slut für eine kleine Vorab-Tour durch fünf deutsche Städte. Während die anderen Bandmitglieder sich noch irgendwo in den nicht allzu unendlichen Weiten des Münchner Atomic Cafés tummelten, standen Christian Neuburger (Gesang, Gitarre) und René Arbeithuber (Keyboards) uns wenige Stunden vor ihrem Auftritt Rede und Antwort zur Entstehungsgeschichte von "Lookbook". Das Gespräch führte Armin Linder.
Der erste Teil Eurer Tour ist bald zu Ende.
Christian: "Wir haben morgen einen Tag Pause, dann noch Wien übermorgen. Im April kommt dann noch die richtige Tour. Das hier ist jetzt nur eine Tour vor der Veröffentlichung."
Waren bisher alle Shows ausverkauft?
Christian: "Fast alle."
Wie sind die neuen Songs bei den Zuhörern angekommen?
Christian: "Wir spielen die ziemlich am Anfang. So wie sich die Leute geäußert haben, ganz gut."
Ich habe gehört, Ihr würdet zunächst versuchen, die Stücke möglichst originalgetreu umzusetzen.
Christian: "Ja, haben wir versucht. Wir haben auch größten Wert darauf gelegt, daß wir dasselbe Spektrum an Instrumenten, das wir für die Platte benutzt haben, auch live verwenden können."
Beim Hören Eures neuen Albums hatte ich das Gefühl, daß alles eine geschlossene Einheit bildet. Würdet Ihr so weit gehen und "Lookbook" als Konzeptalbum bezeichnen?
Christian: (lacht) "Nicht ganz. Ein wirkliches Konzeptalbum würden wir uns wohl nicht so ganz zutrauen. Es gibt einen inhaltlichen und musikalischen Zusammenhang zwischen dem Liedern. Es gibt in dem Sinne keine Geschichte, sondern eher mehrere aneinandergereihte Episoden, die alle einen Menschen zum Gegenstand haben. Das ist ein Herr namens ..."
... Andy ...
Christian: "... der im Lied Nummer 4 auch vorgestellt wird. Ein Konzeptalbum ist es deswegen nicht, weil es keine abgeschlossene Geschichte ist. Uns sind die einzelnen Lieder dann doch wichtiger, als alles einem Thema unterzuordnen."
Es existiert also eine gewisse Verbindung zwischen allen Stücken.
Christian: "Ja, auf jeden Fall. Es gibt eine Chronologie und eine Dramaturgie. Alles, was Andy von sich gibt, alle Lieder, die er singt, münden in einen kleinen Ausbruch, bestehend aus "No time" und "On fire". Am Schluß kommt dann eine eigentlich eher versöhnliche Geste, ein offener Schluß in Form des Liedes "Hope". So ist dann auch der Spannungsbogen angelegt."
Angeblich war bei Euch zuerst der Gedanke da, "Lookbook" nicht als CD, sondern als Buch zu veröffentlichen.
Christian: "Ja, deswegen auch der Titel "Lookbook", der von René stammt. Wir haben Material für ein Buch gesammelt. Ich habe die Texte übernommen, René die Grafiken und Zeichnungen. Wir wollten eine Art Schaubuch daraus machen mit einem imaginären Autor namens Andy. "Schaubuch" haben wir dann wörtlich ins Englische übertragen mit "Lookbook". Wir haben schließlich die Idee von dem Buch und der Musik zusammengelegt und dann doch eine Platte daraus gemacht."
Dann war der Plan, ein Buch daraus zu machen schon sehr konkret.
Christian: "Auf jeden Fall, aber das ist inzwischen gar nicht mehr so wichtig. Wir werden oft gefragt, ob das Buch denn noch irgendwann kommt oder uns auf die Suche nach einem Verlag begeben haben. Aber das ist jetzt gar nicht mehr entscheidend. Wir haben das ganze jetzt komprimiert auf zwölf Seiten Booklet. Vielleicht entsteht dadurch ein Eindruck, wie das gedacht war. Es ist nicht unser Ziel, den Hörer direkt mit der Nase darauf zu stoßen. Wenn es jemand merkt, daß es einen Zusammenhang gibt, ist es schön, wenn nicht, ist es auch nicht schlimm."
In meiner Rezension für plattentests.de (Ab nächster Woche hier zu lesen, Anm. d. Verf.) habe ich vor allem geschildert, was ich beim Hören des Albums erlebe oder was man möglicherweise erleben könnte anstatt nur zu beschreiben, was es auf der Platte zu hören gibt. Ist es so, daß Ihr mit "Lookbook" im Hörer etwas spezielles bewirken wollt?
Christian: "Natürlich. Wir wollen allerdings nicht vorschreiben, was der Hörer zu empfinden hat, sondern möglichst großen Spielraum für eine Interpretation lassen."
Du sagtest, es zieht sich eine Art roter Faden durch das Album. Seht Ihr nicht die Gefahr, daß dieser dadurch etwas verfälscht rüberkommt?
René: "Am besten wäre es, wenn man sich die Platte einmal durchhört und erstmal gar nichts versteht, sondern nur die Lieder gut findet und erst beim öfteren Hören, wenn sich die Texte etwas eingeprägt haben, darauf stößt, daß es einen Zusammenhang gibt."
Gerade "Hope", die versöhnliche Geste zum Schluß, die Christian eben angesprochen hast, erinnert mich positiv an ein bestimmtes Album von einer gewissen Band.
Christian: (ahnungslos) "Nö."
Insbesondere die Keyboards zu Anfang.
Christian: (stockt) "Hm... Sicherlich ist das eine kleine Hommage an The Cure, was die Stimmung angeht. Aber das ist schließlich auch eine Lieblingsband von vielen von uns."
Gerade die Phase von The Cure mit den Alben "Disintegration" und "Wish" meinte ich eigentlich. Denkt Ihr, daß Ähnlichkeiten zwischen Euch und The Cure vorhanden sind?
Christian: "Ein Vergleich mit nur einer Band wäre sicherlich zu wenig, zu einseitig. Vielleicht blitzt das beim einen oder anderen Lied durch, aber auf unsere Musik wirken sicherlich viele Einflüsse, die nicht unbedingt aus der Popmusik stammen. Wenn man die Vergleiche auf eine oder fünf Bands beschränken würde, würde es sicherlich einen falschen Eindruck vermitteln."
Ein Stück, das sich sehr deutlich von den anderen auf "Lookbook" unterscheidet, ist "Swing quest". Was die Struktur betrifft, ist das eigentlich kein Song im eigentlichen Sinne mehr, sondern eher eine Aneinanderreihung verschiedenartiger Fragmente. So etwas ungewöhliches gab es in letzter Zeit höchstens auf "Kid A" von Radiohead zu hören.
Christian: "Wir sind irgendwann an einem Punkt im Studio angelangt, an dem wir dachten: 'Jetzt haben wir genügend Lieder im eigentlichen Sinne', auch wenn sie fünf oder sechs Minuten lang waren und kein 3-Minuten-Popformat haben. Das war, als wir etwa die Hälfte der Platte fertig hatten. Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns entschlossen, ab sofort keine Songs mehr aufzunehmen, sondern das Material, das noch da ist, anders einzusetzen und zu arrangieren. Das waren dann unter anderem "Swing quest", "Big mistake", "Mr. Blake", sogar auch ein bißchen "Caretaker's theme" und "Welcome 1", das auch keine Lieder im eigentlichen Sinne sind. Das waren die letzten Stücke, die wir aufgenommen haben und ganz bewußt nicht in Liedform gepreßt haben."
War "Swing quest" von Anfang an auf diese Weise geplant oder ist es dann eher zufällig entstanden?
Christian: "Man verfällt leicht in dieses Schema F: 'Okay, jetzt kommt der Teil nochmal, dann packen wir noch eine Refrain drauf und am Schluß alles ein bißchen lauter.' Davon mußten wir uns lösen, und das bedeutete schon einiges Umdenken. Es war bestimmt kein Zufall, daß "Swing quest" so geworden ist. Ein wenig Chaos und Intuition gehörten schon dazu. Wir hatten es schon so geplant und uns teilweise weg bewegt von jedem Liedschema."
Was genau hat es mit "Mr. Blake" auf sich? Ein kleines Zwischenspiel, das sehr traurig beginnt, bis dann schließlich jemand versucht auf etwas alberne Weise, mit dem Mund Trompete zu spielen, ohne eine Trompete in der Hand zu halten.
Christian: (lacht) "Auch das wollten wir bewußt so machen. Erstens markiert "Mr. Blake" die musikalische Mitte der Platte, weil ab da ein ganz anderer Film anläuft. Zweitens wollten wir in der ganzen Ernsthaftigkeit, die die Platte vermittelt, ein kleines Augenzwinkern verstecken. Das ist in "Mr. Blake" passiert, das wirklich ein Produkt reiner Spielfreude im Studio war."
Habt Ihr dafür ein Instrument benutzt oder ist das wirklich nur Christian ohne jedes Hilfsmittel?
Christian: "Das bin wirklich nur ich. Es ist auch kein Gag im eigentlichen Sinne, sondern schon ernst gemeint. Es stand auch nicht zur Debatte, ob das jetzt auf die Platte kommt oder nicht."
René: (lacht) "Die Meinungen sind da schon auch mal auseinandergegangen."
Christian: "Naja, es schadet der Platte auf keinen Fall, oder?"
René: (lacht) "Nein."
Wie ist der Label-Wechsel vom Indielabel "Sticksister" zum Major "Virgin" zustande gekommen?
René: "Unsere Konzerte früher waren alle ziemlich gut besucht, obwohl nicht viel Promotion stattgefunden hat. Wir wunderten uns dann eben schon, wo das alles herkommt und dachten, daß wir daraus noch mehr machen könnten. Dieser Gedanke wurde dann immer konkreter, bis wir uns schließlich entschlossen haben, von Sticksister wegzugehen, ganz ohne die Aussicht auf einen neuen Vertrag zu haben. Das haben wir dann auch gemacht und erstmal neue Stücke aufgenommen. Wir waren ein dreiviertel Jahr ohne Label und haben dann die neuen Songs ganz klassisch verschickt an acht Labels. Die meisten haben abgesagt. Nur eines war interessiert, und alles sah noch gar nicht so gut aus. Irgendwann haben wir uns dann gewundert, wieso wir an Virgin noch nichts geschickt hatten. Dann haben wir ihnen unsere Songs gleich per Express geschickt, und nach zwei Wochen war eigentlich schon alles unter Dach und Fach."
Nach ihrem Labelwechsel von Edel zu WEA hat man die Kollegen von SCYCS angeblich mit dem fertigen Album zurück ins Studio geschickt, weil die potentielle Hitsingle fehlte. Hat man in irgendeiner Weise versucht, Euch reinzureden?
Christian: "Wir waren wirklich positiv überrascht. Wir hatten natürlich zuerst wirklich Bedenken, daß irgendwelche Auflagen kommen. Aber man hat uns im Studio wirklich frei schalten und walten lassen. Wir haben der Plattenfirma die CD erst sehr, sehr spät vorgespielt, als es eigentlich zu spät war und es nicht mehr möglich war, sie zu ändern. Sie fanden es gut und haben auch nie versucht, uns reinzureden.
Was war es für ein Gefühl, als Ihr Euren Clip zu "It was easier" zum ersten Mal bei VIVA gesehen habt?
René: "Damit haben wir überhaupt keine Probleme. Ich wüßte auch nicht, warum."
Vor irgendwelchen dummen Kommerz-Vorwürfen, wie es sie leider immer mal wieder gibt, habt ihr keine Angst, oder?
Christian: "Nein, dafür sind wir auch gar nicht geschaffen. Bei uns steht die Musik so sehr im Vordergrund, daß wir als Personen wohl
weitestgehend dahinter verschwinden. So massenkompatibel ist unsere Musik auch nicht."
Sehr schön fand ich die Idee zu dem Clip zu "It was easier" (siehe links) mit dem roten Faden, der sich auch dort durch die
Bilder zieht.
Christian: "Das war beinahe ein Mißverständnis. Es war einfach eine Floskel, als ich mit dem Regisseur telefoniert habe. Wir hatten uns zuvor alle zusammengesetzt und nach einer Idee für das Video gesucht, weil wir schon mitreden oder sogar die Idee liefern wollten. Ich habe ihm dann gesagt: 'Egal, was Du machst: Das Video sollte wie die Platte einen roten Faden haben.' Er hat das dann eben wörtlich genommen."
Wieviele Meter rotes Klebeband sind dafür draufgegangen?
Christian: (lacht) "Ich weiß es gar nicht mehr. Es waren auf jeden Fall immer zwei Leute damit beschäftigt, das blitzschnell auszurollen,
weil wir für manche Orte gar keine Drehgenehmigung hatten. Das mußte alles sehr schnell gehen. Die beiden kamen zehn Minuten vorher an, haben das Band ausgerollt, ich bin schnell entlang marschiert, und sie haben es danach wieder eingerollt."
Wo wurde der Clip denn gedreht?
Christian: "In Germering, einem Vorort von München."
Wir fragen in unseren Interviews gewöhnlich jede Band nach ihren aktuellen fünf Lieblingsplatten. Welche wären das in Eurem Fall?
René: "Sneaker Pimps - 'Splinter'."
Christian: "'White pony' von den Deftones."
René: "'Kid A' von Radiohead."
Christian: "'Litany' von Arvo Pärt, das ist ein klassischer sakraler Komponist."
René: "Die neue PJ Harvey."
Christian: "Puh. Das waren fünf."
Es war vor ein paar Jahren von einem Schloß die Rede, in dem Ihr Euch ein Studio eingerichtet und mit den Kollegen von Pelzig eine Art Musiker-WG gegründet habt. Gibt es das Schloß noch?
René: "Ja, das gibt es noch. Christian hat da allerdings noch nie gewohnt, und ich inzwischen auch nicht mehr."
Wenn man mit einer Internet-Suchmaschine nach Euch sucht ...
Christian: "... sollte man schon besser die genaue Adresse (http://www.slut-music.de/) unserer Seite kennen. Mancher verlustiert sich auf der Suche nach unserer Homepage auch ganz gut, glaube ich." (lacht)
Was gibt es denn auf http://www.slut.de/ zu sehen?
Christian: (lacht) "Wahrscheinlich ziemlich viele bunte Bilder."
Wirkliche Probleme hat Euch Euer Bandname (dt.: Schlampe, Anm. d. Verf.) aber noch nie bereitet?
Christian: "Nein. Man muß sich eben immer wieder die eine oder andere Frage anhören, die wir aber mit jedem Mal knapper beantworten."
Dann erspare ich Euch diese. Ihr habt also ein Lexikon aufgeschlagen, in dem dann plötzlich "Slut" stand. Seid Ihr dann nicht doch in Versuchung gekommen, es noch ein zweites Mal zu versuchen?
René: "Nein. Irgendwann war eben ein Zeitpunkt da, an dem es einfach zu spät gewesen wäre, den Namen zu ändern. Wenn man schon zwei- oder dreimal getourt ist und einigermaßen einen Namen hat, dann macht es auch keinen Sinn, den noch zu ändern."
Von wem stammt denn die weibliche Sprech-Stimme auf Euren Songs "Welcome 2", "Caretaker's theme" und "My dictionary" (B-Seite von "It was easier", Anm. d. Verf.)?
Christian: "Das bin ich."
Oh.
Christian: "Bis auf 'No say', das René spricht, stammen alle Stimmen, die auch oft als singende Sägen oder was auch immer interpretiert werden von mir."
Auch "My dictionary"?
Christian: "Das ist René. Seine Stimme ist stark verfremdet und klingt deswegen etwas weiblich."
Habt Ihr einen Lieblingssong auf dem Album?
Beide: "'Caretaker's theme'"
Christian: " Und an zweiter Stelle ..."
René: "... 'Big mistake' ..."
Christian: "... und 'Hope'."
Wißt Ihr schon, bei welchen Sommerfestivals Ihr in diesem Jahr spielen werdet?
Christian: "Bis jetzt sicher bei Rock am Ring, Rock im Park, Haldern. Bizarre vielleicht auch noch, mal schauen. Das wird momentan noch alles erst gebucht."
Wollt Ihr Radiohead dann auch sehen bei Rock am Ring?
Christian: "Radiohead sind schon bestätigt? Das ist super."
René: "Hoffentlich spielen die nicht an einem anderen Tag wie wir. Das wäre scheiße."
Es wurden inzwischen einige Bands bestätigt: Radiohead, Guns N'Roses, Limp Bizkit...
René: "...Echt..."
... A-Ha ...
Christian: "Bei denen war ich vor kurzen beim Konzert in der Olympiahalle. Ich mag die schon, aber die waren auch nicht mehr so toll. Alles ein wenig zu balladesk."
Habt Ihr demnach einen kleinsten gemeinsamen Nenner, was Eure Lieblingsbands betrifft?
"Nein. Jeder ist für eine andere Musikrichtung zuständig bei uns. So einen gemeinsamen Nenner gibt es Gott sei Dank nicht. Wir sind uns über eine Stimmung einig, die unsere Musik haben muß. Aber jeder hat wirklich seine eigene musikalische Nische."
Was habt Ihr für die nächsten Wochen geplant?
René: "Wir werden jetzt noch eine kleine Radioreise machen, und dann geht ja schon die große Tour los."
Text: Armin Linder
Fotos: Armin Linder (live am 16.02.2001 München / Atomic Café) / Screenshots aus dem Promotion-Videoclip