Mal wieder ist ein Jahr vergangen, mal wieder rätselt alle Welt, was denn nun gut, besser, am besten war. Jahresabschlußranglisten allerorten. Doch ist keine wie diese. Unsere. Einmal mehr ganz demokratisch zusammengestellt. Per Abstimmung. Und wie im Vorjahr zeigt sich ein durchaus anderes Profil als in unserem parallel gelaufenen Jahrespoll 2003.
Während bei Euch Radiohead bei den Alben und die White Stripes bei den Singles recht beeindruckend vorne liegen, hat sich bei uns das famose Album "Hinter all diesen Fenstern" von Tomte souverän durchgesetzt. Bei den Singles hingegen lag, auch wenn es knapp war, Radioheads "There there" vor Blur, den White Stripes und nochmals Tomte.
Daß zudem neben Radiohead auch Tomte zwei Songs unter unseren Top Ten plazieren konnten sowie mit Blackmail, Muff Potter und den allgegenwärtigen Wir Sind Helden gleich noch drei weitere deutsche Acts plazieren konnten, freut umso mehr. Da sage noch jemand, hierzulande gäbe es keine gute Musik.
Genug gelabert: Dies sind unsere Favoriten des Jahres 2003.
ALBUM DES JAHRES 2003 |
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SONG DES JAHRES 2003 |
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Alles geht weiter. Ehe man sich versieht,
reißt man auch schon das nächste Blatt vom Kalender. Tomte waren immer
präsent dieses Jahr. Halfen dabei, uns mit dem Jetzt anzufreunden und das
Morgen willkommen zu heißen. Mit Songs, die offenbarender nicht sein könnten.
Und uns die Welt mit anderen Augen sehen lassen. Kein Album für bestimmte
Momente, Stimmungen, Situationen. Sondern für immer. |
Thom Yorke steht im Wald. Alleingelassen von
den Gefährten, verloren zwischen verworrenen Gitarrenästen. Was wie die Ruhe
vor dem Sturm klingt, ist der Aufgalopp der Apokalypse. Vielarmige Percussion
prügelt schließlich ein gewaltiges Donnerwetter herbei. Holz zersplittert,
Fetzen fliegen, Knochen brechen. Ende. Ein Song, der wehtut. Aber keine
Sorge. "Just cause you feel it / Doesn't mean it's there." |
(Armin Linder) |
(Daniel Gerhardt) |
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Das Album nach der Hölle.
Befreit von allen Geistern kamen Radiohead mit einer kunterbunten
Patchwork-Platte rum, die alles vereinte, was zwischen ein
gleichseitiges Dreieck aus abstrakter Elektronik, Kammer-Pop
und ruppigem Gitarrenrock paßt. Leiser und lauter als je zuvor.
Eben noch greifbar, dann schon wieder meilenweit weg. Nichts war
mehr unmöglich. Und wer mochte, konnte sogar dazu tanzen. |
Die zirpende Gitarre, der träge
Rhythmus, irgendwo im Hall verlorene Seufzer. Damon Albarns Stimme
tief in der monotonen Tristesse des Alltags gefangen. Und doch kreiselt
diese Melodie, diese verfluchtgepriesene Melodie immer enger und enger
um das tagträumende Gehör. Solche Ohrwürmer sind
nicht von dieser Welt. Gepriesen sei die Liebe, ignoriert die Hektik.
Jetzt und für alle Zeit. |
(Daniel Gerhardt) |
(Oliver Ding) |
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Musikalische Souvenirs aus Marrakesch:
Nie waren Urlaubsmitbringsel so liebevoll ausgewählt und von derart
betörender Perfektion, in allem. Blur auf der Höhe ihrer Kunst.
Subtile Songstrukturen, unfaßbar großartige Instrumentierung, filigrane
Melodien, die es verdienen würden, golden eingerahmt zu werden. Ein
Album, für das man zurecht bereit wäre, seine komplette restliche
Plattensammlung zu opfern. |
"Endlich einmal etwas, das länger als vier
Jahre hält," wünscht sich Thees Uhlmann. Vielleicht singt er über das Leben.
Vielleicht über Beziehungen. Vielleicht auch über Plattentests online, mit
dem wir eben das Vierjährige gefeiert haben. Aber zuallererst singt er über
seinen Hund Goo, der - Ironie des Schicksals - im November 2003 verstorben
ist. Wir alle sind vergänglich. Was bleibt, ist Musik. |
(Ina Simone Mautz) |
(Armin Linder) |
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Alleine schon dieser Titel: "Heute wird gewonnen,
bitte." Man möchte sie dafür knutschen, die Potters aus dem
kleinen Rheine. Man möchte sich die Tastatur zerfranseln über
dieses Kleinod deutscher Herzlichkeit, gröhlt stattdessen aber
lauthals mit. Diese verflixten kleinen Punkrocker. Gefühlsbonzen,
die den Fahrtwind lieben und es einem mit Schulterklopfern wie
"Placebo Domingo" mehr als zurückzahlen, daß man immer noch
dabei ist. Morgen wird weitergeatmet, bitte. |
Was wurde nicht alles darüber
diskutiert, wie Jack White diesen Baßsound hinbekommen haben
möge. Wie grottig Meg White auf die Kessel kloppen würde.
Wie gehypet und doch grenzenlos cool diese Band doch sei. Dabei war
das alles sowas von egal. Das Riff ein Brecher, der Groove eine
einzige Stampede. Und wenn es 2003 einen Song gab, der sich das
Gütesiegel "Rock" verdient hat, dann dieser. |
(Sven Cadario) |
(Oliver Ding) |
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Diese Wärme. Diese unglaubliche
Wärme. Wer nur den Weakerthans oder Nada Surf zugetraut hatte,
Existenzialismus, flockigen Powerpop und kachelofenwohlige
Melodien unter einen Hut zu bringen, bekam mit "Transatlanticism"
eine kuschelige Überraschung ins Nest gelegt. Großes Sentiment,
gedankenvolle Poesie und fröhliches Zwitschern mit Hits wie "The
sound of settling". Alles drin. Herbst, dies war Deine Platte. |
Egal, wie lange ich auch nachdenke:
Mir fiele kein Song ein, den ich innerhalb eines Jahres so oft gehört
hätte wie "Die Schänheit der Chance". Noch öfter
hatte ich ihn auf den Lippen. Immer wieder schweifte der Blick dabei
zum Himmel. "Das ist nicht die Sonne, die untergeht, sondern die
Erde, die sich dreht." Zuversicht. Verstehen. Die Sonne wird
wiederkommen. Und alles in ihr gleißendes Licht tauchen. |
(Oliver Ding) |
(Armin Linder) |
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Das alte Lied vom Schritt
zurück, der weit nach vorn führt. Blackmail besannen
sich 2003 auf bekannte Stärken und schmiedeten mit groben
Männerhänden ein Album aus Granit, das dem Pop ins
Gesicht wichste und dem Rock um den Hals fiel. So wüst und
wütend klang Koblenz zuletzt auf seinem Debüt. Und
später im Jahr versöhnte die "Foe"-EP auch noch jene,
die Melodie und Melancholie nachweinten. Das macht denen keiner
nach. Hier und sonstwo. |
Große Opener gab es 2003 viele,
aber das erste Lied der fantastischen "Zitilites" ist
ein besonders feiner: Vom verspielten Gitarrenintro bis zum
Vollgasrefrain aus einem Guß, das Lied hebt ab wie eine
Rakete. Sänger Kasper Eistrup schafft das Wunder, wie eine
Mischung aus Thom Yorke und Morten Harket zu klingen und dabei
hochemotional, aber aufrichtig eine Geschichte vom Verlieren und
Wiederfinden zu erzählen. |
(Daniel Gerhardt) |
(Lukas Heinser) |
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Juli 2003: Im Irak suchte man
nach Saddam, und ich suchte nach einer Möglichkeit, dem
Prüfungs-Streß zu entfliehen. Zum Glück kamen die Thrills,
und ich saß plötzlich in der Zeitmaschine Richtung Malibu
Beach, 1969. Pool-Parties, Cocktails und Bikini-Girls, wie im
Clip zur Strand-Hymne "Big sur". California dreaming ahoi!
Westcoast-Pop für die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang -
The Thrills machten alles richtig. "Don't steal our sun" heißt
ein Song. Gibt's ein besseres Motto? |
Aus diesem Lied hätte ein ganzes
Album werden können. Gitarre, Baß, Schlagzeug, Klavier. Ein
Song als die Summe der einzelnen Teile. British Sea Power leisten
Anschauungsunterricht, präsentieren uns unwissenenden Hörern
zunächst fragmentarisch ihr Meisterwerk "Lately" in allen Passagen
und bauen daraus einen Song auf, der nach knapp vierzehn Minuten
jegliche Aggregatzustände des Gefühls durchlaufen hat. Was bleibt?
Schwitzen, Zittern, Staunen. |
(Christof Nikolai) |
(Sebastian Peters) |
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Es war kein gutes Jahr für
Songwriter. Johnny Cash ist tot. Elliott Smith ganz genauso. Die
Sehnsucht aber ist am Leben. Und mit ihr Damien Rice. "O" ist
eine wahre Geschichte von tiefer Trauer und schierer
Verzweiflung, vom Loslassen und Darüberhinwegkommen. Von
der Vergänglichkeit der Liebe. Aber es gibt auch eine gute
Nachricht: Zuallererst ist "O" nämlich eine Geschichte von
der Hoffnung. Und die stirbt noch immer zuletzt. |
Manchmal holt einen der Lauf der
Geschichte ein: Ich ärgere mich immer noch, daß ich im
Februar nicht losgezogen bin, um mir Wir Sind Helden live in
Kreuzberg zu geben. Ich war zu müde. So blieb mir nur, aus
den Medien vom rasenden Aufstieg einer Band zu erfahren, die
schnell zu Galionsfiguren einer neuen Generation von
Friedensdemonstranten und Globalisierungsgegnern gemacht wurden.
Dabei ist "Guten Tag" auch fernab aller Politik ein verdammt
feiner Popsong. |
(Daniel Gerhardt) |
(Lukas Heinser) |
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John K. Samson mag nicht der beste
Sänger sein. Und auch nicht die besten Melodien schreiben. Aber er
erzeugt das beste Gefühl. Geborgenheit, Verständnis, Wohlbefinden.
All die Geschichten, die das Leben schreibt, faßt er in Worte. Und
sagt schon in den zwei Minuten des Openers mehr als andere ein Leben
lang: "If I'm permitted one act I can save / I choose to sit here
next to you and wave." Dann heult die Trompete los. Nicht nur die. |
Drüben in England singen sie
solche Lieder nicht oft. Von goldenen Zähnen, ausgewachsenen
Mahlzeiten und ähnlich verpeiltem Nonsense. Und von Refrains
wie dem hier lassen sie sowieso gleich ganz die Finger. Eine
einzige überkandidelte Bauchpinselei ist das, so verzuckert,
daß es am Ende schon wieder zum Am-Sack-kratzen toll ist.
Schade eigentlich, daß die so was nicht oft singen.
Drüben in England. |
(Armin Linder) |
(Daniel Gerhardt) |
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Haldern '03: Ein paar Dänen lassen die
Welt schweben, schmelzen den Mond, und rocken in tränenreflektierende
Gesichter. Zu schön, um wahr zu sein. Zu ergreifend, um nicht genau
wie Kashmir hier und sofort jede Emotion zuzulassen. Aus bodenständiger
Schwelgerei wird elektrostatische Gänsehaut. Musik wie die Nervenbahnen
einer Stadt. Ein industrielles Flackern voller Zärtlichkeit und
Leben. Und doch zum Sterben schön. |
Die Anspannung war riesig. Wohin sollten
die Höhenflüge von Radiohead noch führen? Das entrückte Säuseln dieser
Albumeröffnung steigerte die Spannung ins Unermeßliche. Bis plötzlich
ganze Welten hereinbrachen: kreischende Gitarren, überdrehter Groove, zerfetzte
Körper. Selten klang Schizophrenie brillanter. Und im Auge des Sturms Thom
Yorkes spöttisches Meckern: "Don't question my authority or put me in the
dock." Mit schönen Grüßen nach Washington, D.C. |
(Oliver Ding) |
(Oliver Ding) |
ZUM JAHRESPOLL 2003
Ältere Redaktionspolls:
2002
Auswertung: Armin Linder, Koordination: Oliver Ding
Texte: Die Redaktion von Plattentests Online |