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Coals - Tamagotchi

Coals- Tamagotchi

AdP / Al!ve
VÖ: 13.10.2017

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Falsche Neunziger

Arcade Fire, Arctic Monkeys, Foals, Florence & The Machine, The xx… Nein, der Rezensent zählt hier nicht einfach eine zufällige Auswahl kontemporärer Indie-Größen auf, es handelt sich um einen kleinen Ausschnitt der Künstler, die das legendäre KEXP-Radio bereits zu seinen berühmten Live-Sessions begrüßen durfte. Als erster polnischer Act überhaupt darf sich seit 2014 auch das Elektro-Duo Coals in diese illustre Runde gesellen, was in Anbetracht ihres damaligen Status, ein halbes Jahr nach Bandgründung und erst mit einer handvoll veröffentlichten Songs, eine mehr als beachtliche Leistung war. Dennoch laufen Sängerin und Gitarristin Katarzyna Kowalczyk und Multi-Instrumentalist Łukasz Rozmysłowski drei Jahre später immer noch unter dem Radar – würde ihr Landsmann Janusz Gora sich mit aktueller Independent-Musik auskennen, er würde diese Ignoranz mit Sicherheit so ähnlich kommentieren wie an dieser Stelle. Völlig zurecht, denn "Tamagotchi" ist ein hochambitioniertes, vielseitiges, verspieltes und dabei immer songorientiertes Meisterwerk mit Einflüssen von Miley Cyrus bis Sigur Rós.

Albumname und Songtitel wie "MTV", "90's babies" und "VHS nightmare" führen hierbei in die Irre, von einer Rückbesinnung auf das Jahrzehnt von Kurt Cobain und Arschgeweihen fehlt jede Spur. Wenn, dann orientieren sich Coals eher noch ein paar weitere Jahre zurück in die Hochzeit des 4AD-Labels, bleiben dort aber keineswegs stecken, sondern verweben ihre Dreampop- und Shoegaze-Ansätze mit Elementen zeitgenössischer Elektronik- und Hiphop-Musik. Ihr Debüt positioniert sich genau in der Schnittmenge von Warpaint, James Blake und US-Rapper Bones, die einzelnen Versatzstücke sind für sich genommen zwar nicht wirklich innovativ, doch ihre in dieser Form noch nicht da gewesene Kombination sorgt für einen enorm eigenständigen Sound. Dass dieser auch nicht gerade der passende Soundtrack für die nächste Ibiza-Mottoparty der hiesigen Dorfdisco ist, sollte bei den Referenzen eigentlich schon klar sein, doch auch stimmungsmäßig ist "Tamagotchi" kein einfach zu zähmendes Biest.

So beschwört Kowalczyk im Intro lebendige Grabsteine, während sie sich alleine auf einem nächtlichen Rave befindet, doch die Konservenstreicher zu Beginn von "Rave03" öffnen viel eher den Himmel als die Unterwelt. So stellen sie einen der nuanciert platzierten Lichtblicke dar, die Coals ihrer depressiven Schwere immer wieder entgegensetzen. "Witch club" gerät unter Mitwirkung des polnischen Elektro-Musikers Hatti Vatti zu dem, was auf dem Album einem "Banger" am nächsten kommt, überzeugt mit einem großartigen, abgehackten Beat und einem sphärischen Finale. Dieses geht direkt in "Hoodie Blake" über, einem Ambientstück, in dem das Organ der Frontfrau geisterhaft verzerrt wird und das sogar mit Post-Rock liebäugelt. Hat da nicht jemand am Anfang Sigur Rós erwähnt? All diese unterschiedlichen Stile und musikalischen Ansätze stehen sich dabei nie im Weg, das Duo schafft es auf beeindruckende Weise, seine unzähligen Ideen zu einem stimmigen Ganzen zusammenfließen zu lassen.

Nicht unwesentlich für diesen Effekt ist Kowalczyks Stimme, die immer eine unglaubliche Wärme ausstrahlt, sowohl in den verträumteren Momenten, als auch bei ihren Versuchen im Sprechgesang. Von ihr und Achtziger-Gitarren getragen wird "90's babies" nicht nur zum absoluten Highlight des Albums, sondern auch zu einem der besten Songs des Jahres, eine traumhaft schöne Dreampop-Elegie, die sich mit unfassbarer Intensität immer weiter steigert. Der Song steht stellvertretend für eine mit melodieverliebten Tracks wie "MTV" und dem Titelsong etwas leichter daherkommende zweite Hälfte, auch wenn "Tamagotchi" seinem Grundton treu bleibt. Was dann noch folgt ist ein Finale, das das eigentlich nicht zu bewältigende Kunststück schafft, die vorherige Sound-Landschaft auf den Kopf zu stellen. "Lato2002" ist ein auf Polnisch gesungenes, mit treibenden Akustikgitarren unmittelbar nach vorne gehendes Stück, das fast schon volkstümlich anmutet und auf eine Weise in die Vergangenheit schielt, die der Überfluss an Neunziger-Referenzen so nicht erahnen ließ. Daran würde wahrscheinlich sogar Janusz Gora Gefallen finden.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Rave03
  • Witch club (feat. Hatti Vatti)
  • 90's babies
  • Tamagotchi
  • Lato2002

Tracklist

  1. Going to a rave alone (Intro)
  2. Rave03
  3. Witch club (feat. Hatti Vatti)
  4. Hoodie Blake
  5. VHS nightmare (feat. Hoodie Blake)
  6. S.I.T.C.
  7. 90's babies
  8. East streets
  9. Hauntology
  10. Damaged film reel (Interlude)
  11. MTV
  12. Tamagotchi
  13. Dino - Deano
  14. Lato2002

Gesamtspielzeit: 50:51 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag
JippJipp
2017-11-12 10:15:04 Uhr
Finde ich auch eine super Album!
8/10 gehen für mich klar, aber absolut Richtung 9/10 tendieren.
Schade, dass ich die Tour in Deutschland verpasst habe...
nox
2017-11-12 00:41:26 Uhr
Deshalb mag ich Plattentests. Bockstarkes Teil, nach den ersten beiden Durchgängen würde ich sogar zur 9/10 greifen. Aber damit sind wir mal vorsichtig, nech? Noch ein paar Mal hören.

Jedenfalls sehr vielseitig und kreativ.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26286

Registriert seit 08.01.2012

2017-11-08 21:36:46 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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