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Michael Kiwanuka - Love & hate

Michael Kiwanuka- Love & hate

Polydor / Universal
VÖ: 15.07.2016

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Shine on, little diamond

Bei einem Statement wie "Cold little heart" ist schnell vergessen, dass Michael Kiwanuka zwischenzeitlich ernsthaft in Erwägung zog, der Musik den Rücken zu kehren, keine Platte mehr aufzunehmen, dem kreativen Unsicherheitsempfinden nachzugeben, die Lobpreisungen seines Debüts "Home again" resignierend einzukategorisieren unter "15 minutes of fame" und wieder abzutauchen im Alltagstrubel Londons.

In jenem mehr als zehnminütigen Opener "Cold little heart" mimt der Singer-Songwriter zunächst den stillen Teilhaber. Streicher leiten dieses Opus ein, Hände fallen bedeutungsschwanger aufs Piano, Harfe und Background-Chor leisten egozentrische Integrationsarbeit, bis Pink Floyds "Shine on you crazy diamond" aufblitzt, weil David Gilmours Gitarrenspiel in Kiwanukas Anschlag steckt. In Wort und Ton erscheint der Hauptakteur aber erst nach fünf Minuten am Ende des Spannungsbogens. Man kann mit Schweigen nicht nur bestraft werden, sondern auch belohnt.

Michael Kiwanukas zweite Platte beginnt also mit nicht weniger als einem Wahnsinnssong. Man muss das Arrangement nicht als innovativ abfeiern. Aber abseits des Mutes, so einen langen Schinken an den Start zu setzen und der Koketterie der dramaturgischen Notwendigkeit des instrumentalen Intros, räumt Kiwanukas erstes Lebenszeichen psychedelischem Soul in seinem Portfolio noch mehr Platz ein als seinerzeit "Tell me a tale". Viel besser noch: Es wirkt keine Sekunde lang befremdlich. Auf gewohnt zutiefst prätentiöse Art, so, als wäre er nie weg gewesen, singt Kiwanuka "I'm pleasing my cold little heart / Oh I, I can't stand myself."

Mit dem Zuspruch seiner Produzenten Inflo und Danger Mouse und situativerem, intuitiverem Arbeiten im Studio reiften Skizzen zu einer dichten Retro-Metamorphose. Opulente Streicher-Arrangements, Hammond- und Wurlitzer-Sounds, fantastische Background-Gesänge und deutlich mehr Raum für effektverschlingende E-Gitarren, die frei in Wah-Wah-Zirkeln kreisen und deren Krönung sicherlich der fuzzige Spielplatz "The final frame" darstellt. Über den ungeschönten und ansteckenden Handclaps der perkussiv wie von Funk verstärkten Gospel-Zeremonie "Black man in a white world" thront der gebetsmühlenartig wiederholte Titel – und lädt somit unweigerlich zu einem kulturellen Diskurs.

Gleich vorweg: Kiwanuka ist kein Kendrick Lamar. Sozialkritischer Kontext und Rassismus sind nicht das Thema von "Love & hate", wären wohl auch etwas verloren zwischen melancholisch transportierter Herzarbeit in "Falling" und "I'll never love". Aber Kiwanukas künstlerisches Straucheln erblickt im Rückspiegel eben auch schablonenhafte Attributierungen seiner ugandischen Wurzeln. Muss der Typ mit Afro nicht HipHop-Fan sein? Nein. Darf er Fan von Bob Dylan und Neil Young sein und Indie-Rock hören? Ja. Als Teenager aber musst Du schon ein ausgebuffter Hund sein, um als ungeplanter identifikatorischer Grenzgänger Deine Rolle in der Gruppe zu finden. Unsichere Wesen wie Kiwanuka schmieren Jahre später die Saiten mit Butter und singen im brillanten Titeltrack: "You can't steal the things that God has given me / No more pain and shame and misery."

Kiwanuka ist auf der Suche nach Bestärkung in seinem Schaffen, nach Hilfe, seinen Ideen umsetzen zu können, nach "Du bist schon auf dem richtigen Weg" und "Weitermachen, es wird sich alles fügen" – gerade in solch wichtigen Etappen zwischen zwei Alben. Und diesen Halt erfährt und erhofft er sich auf "Love & hate" bei Gott, dem sinngebenden Navigator in "Rule the world": "I don't understand the game or who I am meant to be / ... / Help me to know where I can go." "Save us" und "Walk with me", fordert "Father's child" inbrünstig, und der "Place I belong" betitelte Funk nickt zustimmend.

Ehrlichkeit, Verletzlichkeit, das betont Michael Kiwanuka in vielen Interviews, einen die Musik, die er liebt. Und während er Fragmente von Bill Withers, Isaac Hayes, Richie Havens, Marvin Gaye, Parliament, The Black Keys und einigen anderen zusammenpuzzelt, unternimmt er selbst einen weiteren Schritt in diese Richtung. In dem Bewusstsein, sich dadurch angreifbarer zu machen. Aber hey, wie sagte schon ein weiser Mann: Let's get it on.

(Stephan Müller)

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Highlights

  • Cold little heart
  • Falling
  • Love & hate
  • The final frame

Tracklist

  1. Cold little heart
  2. Black man in a white world
  3. Falling
  4. Place I belong
  5. Love & hate
  6. One more night
  7. I'll never love
  8. Rule the world
  9. Father's child
  10. The final frame

Gesamtspielzeit: 55:02 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

dreckskerl

Postings: 9798

Registriert seit 09.12.2014

2016-07-24 00:52:54 Uhr
interessant wie tief hier diskutiert wurde...
freut mich.
und ja Innovation hebt grundsätzlich die qualität von musik, aber natürlich nur dann wenn der rest sinn macht.
Und bei kiwanaku finde ich die reinen songs stärker als ihre Umsetzung.

Aber wir haben uns verstanden.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19949

Registriert seit 10.09.2013

2016-07-23 19:56:33 Uhr
Danke für die Ausführungen und ich sehe ein, dass das wohl etwas zu dogmatisch von mir formuliert war. Ich sträube mich nur gegen die Behauptung, Innovation würde die Qualität von Musik immer anheben, egal, was die innovativen Elemente genau sind und wie sie sich in den Rest einfügen. Hier hat das zwar niemand behauptet, aber solche Meinungen hab ich schon an anderer Stelle lesen müssen.

fitzkrawallo

Postings: 1546

Registriert seit 13.06.2013

2016-07-23 19:16:11 Uhr
Boneless beantwortet das ja schon ausführlich. Hinzufügen kann ich noch, warum Innovation für mich bedeutsam sein kann (wie gesagt: kann, nicht muss. Ich stelle mich nur gegen die Aussage, dass Innovation überhaupt kein Qualitätsmerkmal sei, so wie du es dem dreckskerl auf der vorigen Seite ankreidest). Das Ausschlaggebende für mich ist, dass, wenn etwas neuartiges hinzugefügt wird oder ein Künstler eine neuartige Herangehensweise wählt, dies mich als Hörer herausfordert (und dabei ist Innovation keinesfalls gleich Komplexität oder instrumentales Können) und meine Hörgewohnheiten in Frage stellt. Auf diese Weise schlägt das dann durchaus auch emotional ein. Zudem - und hier verfließen die Grenzen zwischen Innovation und Eigenständigkeit - bedeutet gute Musik für mich, dass ein Künstler es schafft, sich auszudrücken. Drückt man sich wirklich selbst aus, wenn das Ganze dann so klingt wie bei zig anderen zuvor?
Wie gesagt will ich nicht bestreiten, dass ein gutes Album auch ohne Innovation bestehen kann. Mich persönlich könnte das aber schlussendlich nie so berühren wie ein Album, in dem Innovation zu anderen Merkmalen hinzukommt.

boneless

Postings: 5312

Registriert seit 13.05.2014

2016-07-23 18:29:22 Uhr
Dementsprechend kann ich es absolut nicht nachvollziehen, wie das alleinige Vorhandensein von Innovation - also unabhängig von irgendeiner Wirkung, die die innovativen Elemente erzeugen! - etwas zur Qualitätswahrnehmung von Musik beitragen kann.

Hat das so jemand behauptet?

Ich bin sicher auch kein Hörer, für den Innovation ein Hauptmerkmal von Musik sein muss, allerdings kann es, wie fitz schon sagte, durchaus zur Qualität beitragen. Vllt. verstehe ich das Wort anders als du, aber Innovation heißt doch, dass etwas Neues, Aufregendes dem bereits Vorhandenen hinzugefügt wird. Und sowas kann durchaus den Wert eines Albums steigern.

Ich fühle Musik nur und nehme sie auf anderen Ebenen überhaupt nicht wahr.

Netter Satz, der hier und da auch auf mich zutrifft, allerdings kann Musik, die nur ihre Vorbilder wiederkäut und eben keinerlei Innovation oder irgend ein prägnantes Merkmal besitzt, schnell sterbenslangweilig sein, da "fühl" ich dann gar nichts mehr. Heutzutage sind ganze Genres davon betroffen, siehe Postrock oder verschiedene Metalarten. Ein wenig Innovation hätten viele Alben heutzutage bitter nötig.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19949

Registriert seit 10.09.2013

2016-07-23 18:09:28 Uhr
Ich fühle Musik nur und nehme sie auf anderen Ebenen überhaupt nicht wahr. Dementsprechend kann ich es absolut nicht nachvollziehen, wie das alleinige Vorhandensein von Innovation - also unabhängig von irgendeiner Wirkung, die die innovativen Elemente erzeugen! - etwas zur Qualitätswahrnehmung von Musik beitragen kann. Nun kann ich es mir natürlich nicht anmaßen, die individuellen Abgründe der menschlichen Psyche vollständig zu "verstehen", interessiert bin ich aber schon. Vielleicht möchte mir jemand (fitzkrawallo?) versuchen zu erklären, was genau die Faszination hinter der Innovation bei Musik ausmacht?
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