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Blood Ceremony - Lord of misrule

Blood Ceremony- Lord of misrule

Southern Lord / Soulfood
VÖ: 25.03.2016

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Leben und sterben lassen

Wenn im frühen Mittelalter die so genannten Heiden etwas zu feiern hatten, dann feierten sie richtig. Mit Unterstützung der Kirche, wohlgemerkt. So gab es trotz Verbots im Basler Konzil 1431 bis ins 16. Jahrhundert hinein unter anderem in England die Tradition des "Feast of fools", dem Narrenfest. Nicht komplett ohne Zufall um die Weihnachtszeit liegend, durfte hier das gemeine Volk für einige Tage frei von Zwängen auf den Putz hauen. Inklusive Wein, Weib, Gesang, Glücksspiel und so manchem, was die gestrenge Kirche ansonsten so gar nicht gern sehen mochte. Und in einer gewissen Analogie zum heutigen Karneval – nur ohne Büttenreden und Funkenmariechen, versteht sich – wurde eigens für die orgiastischen Feierlichkeiten eine Art Zeremonienmeister gewählt, der der Überlieferung zufolge mehr Macht hatte als der König selbst. Die Rede ist vom Narrenkönig oder, um endlich die Frage zu beantworten, was zum Geier dieser Exkurs mit Blood Ceremony zu tun haben mag, der "Lord of misrule". Einziges Manko: Für den Lord, meist aus dem einfachen Volk stammend, war dies üblicherweise die letzte Feier. Denn als krönender Abschluss stand das rituelle Opfer des Lords durch Dolch, Galgen oder Scheiterhaufen. Dann doch lieber 'nen amtlichen Kater, möchte man hinterher rufen...

Nun gut, geopfert werden Blood Ceremony mit ihrer stilprägenden Frontfrau Alia O'Brien sicherlich nicht. Doch dieses Wechselspiel aus ausgelassener Feier und morbider Düsternis zieht sich wie ein roter Faden durch das vierte Studioalbum der Kanadier. Richtig, Kanadier. Denn, so blöd es klingen mag, hören kann man das nicht. Bereits der Opener "The devil's widow" ist so herrlich verschroben, schrammeldröhnt im feinsten Siebziger-Sound, dass rein aus akustischen Gründen die Mitglieder dieses Quartetts einen britischen Pass ehrenhalber überreicht bekommen müssten. Mindestens. Erst recht, wenn im kurzen Break die Vorreiter The Devil's Blood dermaßen elegant zitiert werden, dass deren Vordenker Selim Lemouchi, wo immer im Jenseits er jetzt auch sein mag, mehr als nur eine Träne der Rührung verdrücken dürfte.

Was insbesondere auf der ersten Hälfte der Platte auffällt, sind leichte, aber höchst beeindruckende Änderungen im Bandsound. Mit dem Paradoxon, jede Menge Spielereien radikal entfernt zu haben und dabei doch viel virtuoser zu klingen als zuvor. "The rogue's lot" ist ein wunderbares Beispiel dafür, zunächst schleppend beginnend, um dann nach fulminanten Flötensolo in einen enthemmten Jam-Teil zu münden, bei dem trotz Ausrast-Potenzial jederzeit zu spüren ist, dass jede Note durch Gitarrist Sean Kennedy kontrolliert bleibt. Spätestens jedoch, wenn die Querflöte ihren Einsatz hat, werden die überragenden Fähigkeiten der Frontfrau deutlich. Nun muss wahrlich nicht jeder Flöten-Einsatz eine Hommage an Jethro Tull und Ian Anderson sein, doch überall auf dieser Platte finden sich Soli, bei denen vor dem geistigen Auge ein Film abläuft. Ein Film, in dem ein leicht kauzig lächelnder älterer Herr auf einem Bein stehend die faszinierendsten Töne aus dem lediglich zu Zeiten des Psychedelic- und Proto-Metal wirklich massentauglichen Instrument hervorzaubert.

War hier gerade die Rede von "faszinierend"? Dann bitte jetzt die Räucherstäbchen anzünden; vor 45 Jahren wäre vermutlich das ein oder andere Halluzinogen zusätzlich am Start gewesen. Was für ein Meisterwerk ist denn bitte "The weird of Finistere"? Selbst beim flüchtigen Hören nimmt diese Ballade bereits gefangen, unter dem Kopfhörer entwickelt sie ihr wahres Suchtpotenzial. Umso erstaunlicher, dass der Song in seinen Grundzügen bereits für das Debüt 2008 komponiert wurde. Noch weiter zurück, nämlich ins Jahr 1926, reicht der textliche Einfluss zu "Flower phantoms" – einem Roman, dessen Protagonistin eine eher ungesunde Obsession zu Gartenpflanzen entwickelt. Very british again. Rückständig ist das, was Blood Ceremony hier abliefern, jedoch ganz und gar nicht. "Lord of misrule" ist vielmehr eine tiefe Verneigung vor einer Zeit des musikalischen Aufbruchs, eine Zeit voller Kreativität, in der alles erlaubt war, was gefiel. Leichtfüßiger Hardrock, virtuos vorgetragen, vereint unter einem Dach von okkult verwurzelten Texten, ohne allzu plakativ die Andersartigkeit zur Schau zu stellen. Was die großartigen Coven seinerzeit begonnen haben, wird offenbar durch Bands wie Jess And The Ancient Ones, Avatarium und eben Blood Ceremony eindrucksvoll vollendet. Und im Unterschied zur literarischen Vorlage dürfen alle Beteiligten am Leben bleiben.

(Markus Bellmann)

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Highlights

  • The devil's widow
  • The rogue's lot
  • The weird of Finistere

Tracklist

  1. The devil's widow
  2. Loreley
  3. The rogue's lot
  4. Lord of misrule
  5. Half moon street
  6. The weird of Finistere
  7. Flower phantoms
  8. Old fires
  9. Things present, things past

Gesamtspielzeit: 44:07 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag
Prog-Nose
2016-04-20 16:31:52 Uhr
Hör die grad zum ersten Mal. Suuuuper.

"It´s 4 o´clock..., da da da", und diese Tull-Flöte immer, herrlich. Gleichmal ab in den Wald und unter der alten Eiche im magischen Pilzkreis ekstatisch tanzen, bis die Füsse bluten. :-)

Hab die drei Vorgänger grade in einem Rutsch bestellt. Erwarte Grosses.

HELVETE II

Postings: 2467

Registriert seit 14.05.2015

2016-04-07 13:21:49 Uhr
Ich habe die Vorgänger geliebt, aber die neue Platte ist mir eindeutig zu sehr entkernt. Vermutlich wird sich nun genau deswegen der kommerzielle Erfolg einstellen, von mir gibt's dafür aber nicht mehr als knappe 7/10. Schade!

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26411

Registriert seit 08.01.2012

2016-04-06 20:59:16 Uhr
Frisch rezensiert.

Meinungen?


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